Sichtbare Gefühle:"Toleranz", "Herkunft", "Zugehörigkeit"

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Emotionen in Bewegung und Farben auszudrücken ist das Motiv des neuen Programms "Spectrum" der Gruppe "Movimento", das nun beim Ebersberger Kulturfeuer aufgeführt wurde. Zu sehen war etwa die "Anmut". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Grafinger Gruppe "Movimento" brennt auf dem Ebersberger Kulturfeuer ein wahres Feuerwerk ab.

Von Amelie Hörger, Ebersberg

Tiefe Basstöne hallen durch den Alten Speicher. Ungeduldig schwellen sie an, immer lauter, bis das Herz im eigenen Körper anfängt zu vibrieren und die Spannung kaum mehr auszuhalten ist. An den Seiten der Bühne versammeln sich acht junge Mädchen und starren regungslos nach vorne. Ihre weißen Röcke und Oberteile leuchten in jenem sanften bläulichen Schimmer in den der ganze Raum getaucht ist.

Weiß - für den ein oder anderen nichts als strahlende Helligkeit und keine Farbe, doch im Programmheft wird Weiß als "die Summe aller Farben des Lichts" betitelt und bildet Ausgangs- und Zentralisationspunkt für die Aufführung "Spectrum" der Gruppe Movimento. Schon 2014 konnten die Artisten des TSV Grafing beim Kulturfeuer fast 5000 Besucher mit ihrem Können begeistern, und auch heuer sind die drei Vorstellungen schon im Voraus restlos ausverkauft. Mehr als ein Jahr lang haben 130 Artisten im Alter von 10 bis 25 Jahre an dem farbenfrohen Programm gearbeitet, wie Leiter Stefan Eberherr erklärt. Der Zuschauer sieht nun die eindrucksvollen Früchte dieser Proben.

Schon das Bühnenbild überzeugt; durch seine schlichte Beschaffenheit, durch die es zugleich vielseitig einsetzbar ist. Wie die mikroskopische Vergrößerung einer Raufasertapete erscheint die weiße Kachelwand im Hintergrund, und ein schwarzes Podest in der Mitte des Saales lässt erahnen, dass die Artisten ihre Kunst gerne möglichst nahe an den Zuschauern präsentieren wollen. Direkt neben ihnen, aber auch über den Köpfen, in luftiger Höhe.

Die "Reflexion". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eleganz, Anmut, Unschuld

Wenn man nicht gut aufpasst, dann kommt es zum „Auffarb-Unfall“. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

So fliegen fünf Mädchen scheinbar mühelos, eingeknotet in ihre Vertikaltücher über die Zuschauer hinweg. Eleganz, Anmut, Unschuld. In jede Bewegung versuchen die jungen Artisten die Grundmotive der dominierenden Farbe Weiß einfließen zu lassen. Die Münder der Zuschauer, die mit in den Nacken gelegten Köpfen hinauf starren, sind weit geöffnet. Augenscheinlich sind alle gefesselt von der Vorstellung, Kinder wie Erwachsene.

Der Programmpunkt "Zwiespalt". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit Bedacht und Ideenreichtum sind die farblichen Übergänge choreografiert. Jeder Schritt ist sorgfältig geplant und verknüpft mit der vorherigen Nummer. Sie tragen Titel wie "Zwiespalt", "Hoffnung" oder einfach "Licht". Von Weiß zu Blau, von Blau zu Gelb: Da taucht in dem lustigen Tanz der Clowns in blauen Latzhosen, plötzlich ein gelber Ball auf, welcher kurz darauf an Johannes Böhringer weitergereicht wird. Dieser nimmt den großen sperrigen Gymnastikball kurzerhand mit auf sein Turngerät: Eine vertikale Stange, die sogenannte "Chinese Pole". Immer höher und höher klettert er hinauf, scheint magnetisch an der Stange zu kleben. Verboten leicht lässt er diesen Kraftakt aussehen. Als fiele auch der Salto an der Stange nicht weiter schwer.

Die eine Passage bestimmende Hauptfarbe verdrängt jedoch niemals die anderen Töne des Spektrums. So wird zwischen tiefen Rottönen vor der Projektion eines gelblich pulsierenden Feuers getanzt. Die Kostüme der Tänzer, die sich in engen Streifen um ihre Körper wickeln, sind tiefschwarz anstatt leuchtend rot. "Wir wollten uns von den Farben und den zugehörigen Gefühlen inspirieren lassen", sagt Eberherr. So sei das Gesamtkonzept entstanden.

Dass hierbei die Gefühle, welche mit den Farben in Verbindung stehen, berücksichtigt werden, zeigt sich besonders beim feurigen Rot. Streit, Aggression und Konflikt: Rot kann eine wütende Farbe sein, aber auch wunderschön, wie Jonathan Riedel und Ronja Suhling an den Strapaten eindrucksvoll zur Show stellen. An den langen Bändern hängend, schwingen sie aufeinander zu und voneinander weg, bilden immer wieder eine Einheit. Zwei Verliebte, quasi schwerelos, an Händen, Armen oder Beinen verbunden. Mal im Spagat, dann in einer wilden Verrenkung. Es ist schwer auszumachen, wo der eine anfängt und der andere aufhört. Rot steht auch für Liebe und der Leidenschaft.

Der Farbe Grau ordnet man diese zwei Merkmale wohl kaum zu. Auch bei "Spectrum" steht sie eher stellvertretend für Monotonie und Routine. Auf die Darbietungen soll sich dies jedoch nicht beziehen, denn sowohl angesichts der Jonglage mit Ringen, Bällen und Keulen als auch des waghalsigen Balanceakts von Ahmed Ali und seinen zwei jungen Kollegen kommt beim Zuschauer keine Langeweile auf. Da stapelt der junge Mann, ein, zwei, drei, gar vier Rollen sowie ein Brett übereinander und hält dort oben sicher, wenn auch auf wackeligen Beinen das Gleichgewicht. Sichtlich erleichtert ist er nach diesem Akt der Körperbeherrschung und erntet stürmischen Applaus. Grau ist doch alles andere als eintönig.

Auf die Idee, mit unterschiedlichen Farben zu arbeiten habe sie das Motto der 2019 stattfinden Weltgymnaestrada, des vom Weltgymnastikverbands ausgerichteten Turnfests in Vorarlberg, gebracht, so Eberherr: "Come together. Show your colours!" Mit ihrem Programm bekennt sich Movimento vor allem dazu, bunt zu sein. Worte wie "Toleranz", "Herkunft", "Zugehörigkeit" erscheinen zwischenzeitlich auf der Leinwand. Ein Teil des Ensembles versammelt sich, singt A cappella Cindy Laupers "True Colours" und man fragt sich Was kann diese Gruppe eigentlich nicht?

Kein Wunder, dass ein kleines Mädchen sagt, sie wolle das später auch einmal machen. Movimento zeigt nicht nur ein hochkarätiges Akrobatikprogramm, sondern auch eine perfekte Symbiose aus Licht, Technik, Musik und allen Farben des Regenbogens.

© SZ vom 30.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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