Prozess vor dem Landgericht:Jahrelanges Martyrium

Lesezeit: 2 min

66-Jähriger muss sich wegen Kindesmissbrauchs verantworten

Von Stephan Handel, München/Ebersberg

"Haben Sie gerade Bordell gesagt?", fragt der Staatsanwalt, und spätestens an dieser Stelle zerbricht die Geschichte, die bereitliegt in den Köpfen - die Geschichte vom bösen Kinderschänder, der ein Mädchen immer wieder missbraucht, ohne dass jemand es merkt, bis das Opfer endlich den Mut findet, sich jemandem anzuvertrauen. Auf der Anklagebank im Landgericht München I sitzt ein 66 Jahre alter Mann aus dem südlichen Landkreis Ebersberg. Doch je weiter die Verhandlung am Dienstag fortschreitet, desto mehr verfestigt sich der Eindruck: Da müssten noch einige Leute neben ihm sitzen.

Der Angeklagte soll über Jahre ein Kind sexuell missbraucht haben, so steht es in der Anklageschrift , und auch wenn der Angeklagte nicht gleich ein Geständnis ablegt, so bestreitet er doch auch nicht, dass alles so geschehen ist. Es begann mit Fummeleien, mit intimen Berührungen der damals Zehnjährigen. Als der Staatsanwalt seine Anklage weiter vorträgt, die Geschichte einer Eskalation, da wechselt der Gesichtsausdruck einer Gruppe junger Frauen im Zuschauerraum von Erstaunen zu Entsetzen, zu Ekel und Abscheu.

Der Angeklagte wirkt merkwürdig unbeteiligt, er hat oft Probleme zu verstehen, was Richterin, Staatsanwalt, Sachverständiger oder sein Verteidiger von ihm wollen. Er ist, so berichtet er, in der DDR aufgewachsen, war dort verheiratet, zwei Kinder kamen zur Welt, noch vor der Wende reiste die Familie in den Westen aus. Hier zerbrach die Ehe, und nach einiger Zeit fanden seine Eltern, er brauche wieder eine Frau. Sie hatten auch schon jemanden im Auge, Mutter eines Sohnes. Die Frau holte ihren neuen Partner zu sich, drei Jahre lang ging alles einigermaßen gut, das Paar bekam noch eine Tochter. Als sich die Frau aber von ihm trennte, da wurde es endgültig unübersichtlich.

Obwohl sie mit einem neuen Mann zusammenlebte, unterstützte der Angeklagte sie weiter - "ich wollte, dass es meiner Tochter gut geht", sagt er. Die Frau bekam noch fünf Kinder, darunter auch das Mädchen, um das es vor Gericht ging. Gelegentlich schliefen die Ex-Ehepartner noch miteinander, heute meint er, sie habe ihn nur ausnützen wollen, um an Geld zu kommen. Der neue Lebensgefährte begann offenbar ein Verhältnis mit der Tochter des Angeklagten, die zu dem Zeitpunkt erwachsen war, aber noch zuhause lebte. Ach ja, und das Bordell: Die Frau arbeitete im Leierkasten als Prostituierte, das erzählt der 66-Jährige nach etwa zwei Stunden, nicht nur der Staatsanwalt schaut erstaunt.

Es ist die Geschichte einer dysfunktionalen Familie, in der das Unnormale normal war, in der die Mutter nichts dabei fand, dass ihre kleine Tochter den "Onkel" noch besuchte, als der Missbrauch schon lange aufgedeckt war, der Missbrauch, der drei Jahre andauerte und für das Opfer gewiss noch lange nicht vorbei ist. Die Anklageschrift listet 40 Fälle auf, beginnend 2015, der letzte datiert vom April 2017. Im Monat darauf wurde der mutmaßliche Täter verhaftet, seitdem sitzt er in U-Haft. Das Gericht hat erklärt, dass er bei einem Geständnis zwischen achteinhalb und neuneinhalb Jahren Haft zu erwarten hat. Drei weitere Verhandlungstage sind angesetzt, das Urteil soll am kommenden Dienstag gesprochen werden.

© SZ vom 08.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: