Prozess vor dem Landgericht:Ins Trockene gebracht

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Alkoholkranker Mann muss sich wegen Missbrauchs von Notrufen verantworten

Anruf bei der Polizei. "Ich will hier abgeholt werden." - "Wohin denn?" - "Ins Gefängnis." - "Warum wollen Sie denn eingesperrt werden?" - "Ich hab Bewährungsstrafen offen." - "Und sind hackevoll?" - "Ja, humpenvoll. Ich will weg von diesem Suff. Tuns mir ein Gefallen und schickens mir die Leut. Ich brauche Hilfe."

Als er das Protokoll seines Hilferufs hört, schaut der Angeklagte im Gerichtssaal betreten zu Boden. Insgesamt sieben Mal wählte der 61-Jährige in einer Nacht vor zwei Jahren von seiner damaligen Wohnung in Poing aus im Suff die 110. Für ihn ein verzweifelter Hilferuf, für die Justiz ein Delikt. Wegen "Missbrauchs von Notrufen" und "Beeinträchtigung von Unfallverhütungs- und Notrufmitteln" hatte ihn das Ebersberger Amtsgericht zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der 61-Jährige legte Berufung ein. Deshalb sitzt er am Freitag im Landgericht München II.

Dort breitet die Richterin Marion Tischler ihre Arme aus. "Warum machen Sie denn sowas?" Doch warum er 2016 wieder einmal im Minutentakt die Einsatzzentrale anfunkte, obwohl er eben wegen solcher Anrufe unter zweifacher Bewährung stand, weiß der Mann mit den zurückgekämmten weißen Haaren, dem schwarzen Jackett und der blauen Jeans selber nicht so recht. "Vielleicht weil ich mir dachte: Jetzt hab ich jemanden, der mir zuhört", mutmaßt er.

Seit er 14 Jahre war, ist der Angeklagte immer wieder straffällig geworden. Zunächst stahl er, saß mehrmals im Gefängnis. Mit Anfang 30 begannen die Trunkenheitsfahrten, mit Anfang 50 die verzweifelten Notrufe bei der Polizei. Die waren offensichtlich ein Ergebnis seiner Alkoholkrankheit, seiner "jahrzehntelangen, bewährten Strategie", wie sein Bewährungshelfer schildert.

Genau die soll sich in den vergangenen anderthalb Jahren aber zum Guten verändert haben. Hinten im Saal sitzt die Partnerin des Angeklagten, zitternd, über allem die Frage, ob ihr Lebensgefährte wegen seiner Anrufe ins Gefängnis muss. Um aus seinem Alkoholiker-Dunstkreis rauszukommen, sind beide zusammen von Poing in eine 800-Seelen-Gemeinde im Landkreis Mühldorf am Inn gezogen. Dort leben sie von Hartz IV, aber immerhin: "Seitdem ist er trocken", schildert einer der beiden Anwälte - weil der Pflichtverteidiger nicht abbestellt worden war, sind sie zu zweit.

Auch der Bewährungshelfer lobt die Fortschritte des 61-Jährigen. Er habe sich ins Dorf integriert, Freundschaften geschlossen, schnitze Weihnachtskrippen. Für einen Rückfall sieht er keine Hinweise. Auch einer der Anwälte sieht die Flucht aus der "anonymen" und "hektischen Metropole" Poing als guten Weg. Der Angeklagte habe sich geändert, "weil er es zum ersten Mal seit langer Zeit selber möchte." Ins selbe Horn bläst die Staatsanwältin. Sie fordert zehn Monate auf Bewährung. Bei der Bewährungsstrafe bleibt es dann auch: Die Richterin gibt acht Monate. "Heute ist Ihr Urteil überholt", verkündet sie fröhlich und betont: Eine dritte Bewährungsstrafe zu geben, "das habe ich noch nie gemacht."

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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