Poing:Wachstum als Vision

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Poings Bürgermeister Albert Hingerl über die Entwicklung seiner Gemeinde, skeptische Kollegen, die explodierenden Grundstückspreise und das lange Warten auf den großen Wurf in der Politik

Interview von Barbara Mooser, Poing

Wer nach ein paar Wochen oder gar Monaten Abwesenheit in den Poinger Norden zurück kommt, gerät immer wieder ins Staunen: Wo vor kurzem noch Felder waren, ragen Kräne in die Höhe, entstehen Straßen und Häuser. Gerade wird am Wohngebiet Seewinkel - prosaischer W6 - gebaut, 1400 Menschen werden einmal hier wohnen. Doch damit ist das Wachstum der Gemeinde noch lange nicht zu Ende, die nächsten Wohngebiete W7 und W8 sind bereits in Vorbereitung. Dass die Gemeinde, in der 1970 gerade einmal 4500 Menschen lebten, in zehn Jahren wohl mit 20 000 Einwohnern aufwarten kann, ist eine lange geplante Entwicklung: In den 1970er Jahren einigten sich Politiker aus der Landeshauptstadt und der Gemeinde darauf, dass Poing einer der Siedlungsschwerpunkte im Verdichtungsraum München werden sollte. Das war lange vor der Amtszeit von Bürgermeister Albert Hingerl (SPD), der seit dem Jahr 2000 gemeinsam mit seinem Gemeinderat Poings Entwicklung steuert.

SZ: War es rückblickend richtig, die Entwicklung in diese Bahnen zu lenken?

Albert Hingerl: Ich denke, es war sicher richtig, dass Poing sich zu diesem Zeitpunkt für diese Entwicklung entschieden hat. Aber dass Poing - die politische Gemeinde, die gesamte Gesellschaft hier - damals schon mit diesem Siedlungsdruck gerechnet hat, wie er sich heute darstellt, das glaube ich nicht. Natürlich gab es zusammen mit dem damaligen Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der zum gleichen Zeitpunkt ja Neuperlach gebaut hat, angesichts solcher Herausforderungen wie der Olympiade oder der S-Bahn-Erweiterung die Entscheidung, Siedlungsschwerpunkte festzulegen. Das zeigt eigentlich schon, dass man mit großem Wachstum rechnen durfte - musste - und die Planungen danach ausgerichtet hat. Den Siedlungsdruck, den man heute spürt, der überdies noch verstärkt wird durch die Asylbewerber-Thematik und die Preisschere beim Wohnraum, konnte man aber nicht vorausahnen.

Es gibt im Landkreis Gemeinden, die nur langsam wachsen und die manchmal ein bisschen herablassend sagen: So wie in Poing wollen wir das nicht. Ärgert Sie das bisweilen?

Wenn wir davon Kenntnis nehmen, dann meistens über die Presse. Ein Kollege jedenfalls hat so etwas noch nie zu mir gesagt, jedenfalls nicht in einer herablassenden Art. Klar ist: Die Verantwortlichen in den Kommunen, die einen anderen Weg gehen, müssen auch mit den Konsequenzen rechnen. Wer weniger Bauland ausweist, wer glaubt, dass er auf diese Weise steuern kann, der muss damit rechnen, dass es zu einer Verdrängung kommt. Denn die Mietpreise steigen, weil die Nachfrage wesentlich größer ist als das Angebot. Insofern wird jede Gemeinde den Siedlungsdruck spüren, jeder auf seine Art. Einige Leute werden sich die Wohnungen nicht mehr leisten können, weil es immer welche geben wird, die den höheren Preis zahlen.

In Poing ist ja nun ohnehin schon viel Wohnraum im Angebot, aber es könnte immer noch mehr sein, oder?

Viel mehr! Erst vor ein paar Tagen haben wir über das Thema Altersarmut gesprochen, Leute, die in Rente gehen, können sich oft Poing oder vergleichbare Regionen nicht mehr leisten. Ich denke, wir bauen noch viel zu wenig preiswerte Wohnungen. Die Quadratmeterpreise bei Neubauprojekten sind ja inzwischen doppelt so hoch wie vor 20 Jahren. Und die Frage ist: Wer zahlt das? Ein Reihenhaus für 600 000 Euro...

... das wäre sogar in Poing noch ein eher günstiges...

Genau! Also ich könnte es mir nicht leisten, dabei habe ich jetzt als Bürgermeister sicher ein besseres Gehalt als viele andere. Aber ohne irgendwelche Hilfen, Erbschaften oder sonstige Co-Finanzierung ginge es nicht.

Kann man gegen solche Entwicklungen von politischer Seite irgendwas tun?

Ich meine, das ist die politische Verantwortung einer Kommune: Hat sie Grundstücke? Beschafft sie Grundstücke? Natürlich ist es heute fast unmöglich, Grundstücke in unserer Region zu beschaffen. Die Landwirte wissen schließlich auch, was ihr Grund wert ist, überdies sind sie nicht begeistert, beim Verkauf hohe Steuern zu zahlen, das verstehe ich auch. Ich denke, man müsste mehr in Richtung SoBoN - die sozial gerechte Bodennutzung - gehen. Wenn man jetzt Bauland ausweist, muss man schauen, dass man rechtlich abschöpft, was möglich ist, und die Voraussetzungen schafft, dass auf 20 oder 30 Prozent der Fläche preiswerter Wohnraum entsteht.

Baukräne dominieren seit Jahrzehnten immer wieder die Silhouette von Poing. Daran wird sich auch erst einmal nichts ändern. (Foto: Christian Endt)

Sie sagten vorher, dass man auch noch viel mehr bauen muss - denken Sie, dass selbst Poing noch stärker wachsen könnte als bisher geplant? Ursprünglich sollte Poing schließlich sogar einmal auf 30 000 Einwohner anwachsen. Könnte man diese Pläne doch noch einmal reaktivieren?

Für Poing schließe ich das jetzt einfach aus, weil Poing die Flächen nicht hat. Im Vergleich mit den 20 anderen Gemeinden im Landkreis sind wir nach Pliening und Markt Schwaben flächenmäßig mit knapp 13 Quadratkilometern die drittkleinste Gemeinde im Landkreis. Wobei: Wir reden jetzt von den nächsten 20 Jahren. Wenn in 40 Jahren noch eine Nachverdichtung einsetzt, die Parksiedlung abgerissen und zehnstöckig neu gebaut wird (lacht), dann ist das etwas, was ich jetzt nicht voraussagen kann. Also aus meiner Sicht ist Poing mit 20 000 Einwohnern gut bedient, auch mit der Infrastruktur und allem, was dazu gehört. Aber es gibt sicher im Landkreis Kommunen, die von der Fläche her noch wachsen könnten - ob das gewünscht, gewollt, möglich ist, das weiß ich natürlich nicht.

Sie haben vorher angedeutet, dass sich zum Beispiel auch Senioren keine Wohnungen mehr leisten können. Kann die Politik da gegensteuern?

Die Frage ist sehr schwer zu beantworten. Es geht letztlich um Senioren, die keine Wohneigentum haben, die zur Miete leben und zu wenig Rente haben. Wichtig ist hier einfach, dass man genügend bezahlbaren Wohnraum schafft, das geht nur über den sozialen Wohnungsbau, der ja auch gefördert wird. Gerade auch im Zusammenhang mit dem erwarteten Zuzug von weiteren Asylbewerbern ist er sehr notwendig. Der bayerische Städtetag fordert zur Zeit den Neubau von 80 000 Wohnungen. Wenn das passiert, kann man den Leuten natürlich etwas anbieten. Auch Poing baut Sozialwohnungen, aber laufend haben wir auch Wartelisten und Härtefälle. Dem kann man nur begegnen, indem man versucht, einfach noch mehr zu bauen. Meine Überlegung wäre aber auch immer, über den ÖPNV den Ballungsraum zu erweitern. Wenn man sich vorstellt, dass die S-Bahn nicht in Erding, sondern noch einmal 30 Kilometer weiter endet, wird es bei einer guten Anbindung mit einer kurzen Fahrzeit wieder attraktiv für die Menschen, da draußen zu wohnen, weil sie keinen Nachteil haben. Im Gegenteil: Die Grundstücke werden preiswerter, die Umgebung wird schöner, es ist weniger los, ich kann mir das ohne weiteres vorstellen. Aber da muss halt ein großer Wurf her, ohne den geht es nicht.

Der zeichnet sich aber nicht ab, oder?

Ach, wenn ich sehe, dass wir schon 25 Jahre auf unsere Eisenbahnüberführung warten... Die schaffen ja nicht mal, dass der viergleisige Ausbau kommt, dass die zweite Stammstrecke kommt. Da ist der Glaube schon sehr strapaziert, ob da die große Politik noch was schafft. Jetzt haben wir Gewerbesteuereinnahmen noch und nöcher, die Parteien in der großen Koalition sind sich in vielen Dingen einig, aber diese Aufgaben lösen sie nicht.

Auch im Landkreis gibt es aus den Reihen der SPD Vorschläge, wie man der Wohnungsnot begegnen könnte. Der frühere Landratskandidat und Baufachmann Ernst Böhm hat vorgeschlagen, entlang der S-Bahn-Strecken größere Wohnblocks zu errichten. Das ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen, manche haben die Befürchtung geäußert, dass hässliche Sozial-Ghettos entstehen könnten.

Das sehe ich überhaupt nicht so, wo sollte da ein Ghetto entstehen? Wenn man beispielsweise unsere wunderbare Parksiedlung anschaut, das ist alles andere als ein Ghetto. Und Herr Dr. Böhm würde auch Holzbauweise vorschlagen, er hat Modelle entwickelt, dass preiswerter gebaut werden kann. Und um das geht es doch letztendlich, die wirtschaftlich effizienteste Lösung zu finden. Wenn jemand so etwas nicht möchte, dann wird er das nicht machen, und er wird auch immer Gründe dafür finden. Das ist für mich auch ok, wenn eine Gemeinde das so entscheidet. Aber man muss dann auch die Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen. Denn die Gemeinde wird sich trotzdem verändern, die Struktur wird sich trotzdem verändern. Es ist einfach so: Mietverträge laufen aus, die Mieten erhöhen sich und dann gibt es immer welche, die sich die höheren Mieten leisten können und andere nicht - und dann muss man halt sehen, ob es die richtige Entscheidung war, andere Entwicklungen nicht zuzulassen. Ich glaube, man muss sich verabschieden von der Idee, dass man in einem Ballungsraum alleine die Entwicklungen plant nach Grundsätzen wie vor 30, 40, 50 Jahren. Das ist doch ein dynamischer Prozess, man muss in gewisser Weise im Strom mitschwimmen, natürlich nicht um jeden Preis und in jeder Geschwindigkeit, da ist es sicher richtig, wenn gewisse Barrieren eingebaut werden. Und man muss vor Augen haben, wie die Gemeinde in zehn oder 20 Jahren aussehen soll.

Und das klappt in Poing?

Ich glaube nicht, dass wir in Poing unverantwortliche Entscheidungen treffen, die im Nachhinein irgendwie als Negativbeispiel gelten. Ich denke, Poing hat in der Vergangenheit viele Dinge mit einer großen Mehrheit vorausschauend richtig gemacht. Da ist der Ausbau der Kindertagesstätten, die Integration der Neubürger - das muss man ja können, das ist eine große Kunst, bei jedem Wohngebiet bis zu 1500 neue Poinger zu integrieren. Und dann gibt es bei uns ja immer eine Diskussion über die Entwicklung von Alt- und Neu-Poing. Man darf da einfach nicht seine Ziele aus den Augen verlieren und auch nicht Entscheidungen treffen, heute so und morgen so. Es gibt ein gemeinsames Ziel, Parameter, die man irgendwo setzt, und an denen muss man auch festhalten. Und man muss es dann auch eine gewisse Zeit aushalten, dass einem unterstellt wird, dass man sich zu wenig um die eine Seite kümmert. Ich denke, der Poinger Gemeinderat ist da sehr fortschrittlich. Und momentan sieht man ja gerade, wie sich die alte Ortsmitte neu belebt, mit der geplanten Gaststätte im ehemaligen Liebhart und den Vereinsräumen dort, mit dem Wohnungsbau, einem neuen Supermarkt, der die Versorgung sicherstellt, und natürlich auch dem Schulneubau an der Karl-Sittler-Straße.

"Ich könnte mir das nicht leisten", sagt Albert Hingerl über Reihenhäuser für 600 000 Euro und mehr. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Gelingt es Ihnen als Bürgermeister überhaupt noch, mit den vielen Neubürgern in Kontakt zu treten?

Die Bürgersprechstunde ist sicher nicht das ideale Mittel, weil die wenigsten das wahrnehmen können, das ist nur ein kleiner Mosaikstein. Wichtig ist die Offenheit, die Bereitschaft, für jeden da zu sein. Beispielsweise kann man über Facebook oder E-Mail Kontakt zu mir aufnehmen, das Rathaus präsentiert sich mit einer neuen Homepage. Wir sind mit unserem Bürgerservice so aufgestellt, dass wir kurze, schnelle Antworten geben können, das ist uns oft auch bestätigt worden. Ansonsten punkten wir durch unsere Dienstleistungen. Ich denke, wenn junge Familie nach Poing ziehen, dann brauchen sie Sicherheit, was die Kinderbetreuung betrifft, die bekommen sie, also ist ihnen diese Sorge schon genommen. Die Vereine helfen natürlich bei der Integration, aber das spielt meistens erst nach ein paar Jahren eine Rolle. Man lernt sich in erster Linie einmal über die Nachbarschaft oder über die Kinder kennen, dann kommt im zweiten oder dritten Anlauf der Bürgermeister oder der Verein. Wir haben eine Seniorenbeauftragte, eine Kulturbeauftragte, jede Woche ein 40-seitiges Gemeindeblatt, das gibt's fast nirgends. Man kann natürlich immer mehr tun, aber ob es dann immer noch sinnvoll ist, ist die Frage. Klonen können wir uns alle nicht. Alle Fraktionen im Gemeinderat haben jede Woche Sprechstunden, das ist auch Teil der Integration. Wer den Bürgermeister nicht ansprechen will, der kann seine Lieblingspartei ansprechen - und die melden sich dann letztlich alle bei uns.

Schnelles Wachstum erfordert immer auch die entsprechende Infrastruktur. Gibt es etwas in Poing, das Sie hier als dringend erforderlich sehen?

Dringend sind die Schulen und die Kindergärten. Ich bin auch überzeugt, dass die Gemeinde früher oder später ein Bürgerhaus in der Vollendung braucht, mit einem Saal für Veranstaltungen für 400 oder 500 Leute, einen richtigen Treffpunkt also. Und die Eisenbahnüberführung, die ab 2018 jetzt gebaut werden soll, ist für mich sehr wichtig, weil sie eine Verbindung ist zwischen Alt- und Neu-Poing, die von Anfang an als gesetzt galt. Darauf warte ich jetzt seit 25 Jahren, die Frage, ist ob ich es in meiner Amtszeit noch erlebe. Das wäre so eine Altlast, die ich mit mir rumtrage. Wichtig ist auch, dass wir am Marktplatz mehr machen wollen, als derzeit zum Ausdruck kommt, um hier auch den Leuten einen öffentlichen Raum mit Aufenthaltsqualität zu schaffen.

Momentan stehen diverse Schul- und Kitabauten an - kann sich Poing die Überführung, die mehr als zehn Millionen kosten wird, überhaupt noch leisten?

Bis dato mussten wir keine Kredite aufnehmen. Ich glaube, jetzt kommen wir in die Dekade, wo die Gemeinde in Vorleistung gehen muss, dazu gehören die zwei Schulen und die zwei Kindergärten, dann kommt ein dritter Kindergarten mit zwei Drittel der Kosten dazu, der katholische Kindergarten am Endbachweg.

Angesichts der hohen Kosten: Haben Sie manchmal schlaflose Nächte beim Gedanken, dass ein großer Gewerbesteuerzahler wegbrechen könnte?

Schlaflose Nächte vielleicht nicht, aber der Gedanke ist natürlich häufig da. Das wäre natürlich für Poing der Super-Gau, wenn bestimmte Poinger Firmen einbrechen würden aufgrund der Wirtschaftskonjunktur. Unser Vorteil ist, dass wir so gute Firmen haben, unser Nachteil ist, dass wir nicht so viele Firmen haben, die in einer Balance das ganze ausgleichen können. Aber wir sind natürlich dankbar um jeden Arbeitsplatz, den wir in Poing haben und um jede Firma, die sich zum Standort bekennt. Das ist auch das Verdienst der Gemeinde, eine Willkommenskultur zu pflegen. Wir sind keine hochnäsige Gemeinde.

Sie sind nicht nur Poinger Bürgermeister, sondern auch Kreispolitiker. Könnte der Kreis noch mehr tun, um den Siedlungsdruck zu bewältigen?

Der Kreis hat hier natürlich immer eine gewisse Zwitterstellung. Was ich nicht möchte, ist dass der Kreis Aufgaben wahrnimmt, die hoheitlich in die Zuständigkeit der Kommunen fallen. Im Bereich Wohnen und Infrastruktur finde ich im Landkreis positiv, dass er durch seine Förderrichtlinien den sozialen Wohnungsbau mit unterstützt. Das ist nicht seine Pflichtaufgabe, aber er tut's, das haben wir gemeinsam neu erarbeitet, das ist eine sehr gute Geschichte. Der Landkreis ist auch bereit, dass er Grundstücke einbringt, die in gewisser Weise entbehrlich sind, und sie dem sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt. Das ist auch eine sehr vorbildliche Situation. Dass er selbst Wohnungen baut, das ist nicht die Aufgabe des Kreises.

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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