Poing/Steinhöring:Zwischen Bedürfnissen und Begabung

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Bei allem Engagement für die Inklusion: Nicht jedes Kind mit einer Behinderung ist auf einer Regelschule auch gut aufgehoben, weil die Bedingungen dort längst nicht ausreichen. Wohl auch deshalb ist der Zulauf bei den Förderzentren im Landkreis ungebrochen groß

Von Alexandra Leuthner, Poing/Steinhöring

Die staatliche Verpflichtung zur Inklusion, also zur Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf in der Regelschule, gibt es seit 2009, seit die Bundesrepublik Deutschland die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen (UN) aus dem Jahr 2006 ratifiziert hat. Ein Umdenken, was die Beschulung dieser Kinder und Jugendlichen angeht, hatte in Bayern aber schon früher eingesetzt. Bereits 2003 war das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) novelliert worden. Wie schwer aber ist es, allen Kindern im Unterricht gleichermaßen gerecht zu werden, wenn die einen wie von selbst lernen, die anderen aber mit Aufmerksamkeitsdefiziten, Leseschwächen, Schwerhörigkeit oder einer körperlichen oder seelischen Behinderung klar kommen müssen? Kann das überhaupt funktionieren?

Der Leiter der Poinger Seerosenschule, Jörn Bülck, hatte vor einiger Zeit berichtet, dass das Förderzentrum für Kinder mit Lern-, Sprach- und/oder Verhaltensproblemen besuchten - trotz aller Inklusionsbemühungen an den Regelschulen - so viele Kinder wie noch nie zuvor besuchten. Zugleich habe er den Eindruck, dass mehr Kinder mit größeren Schwierigkeiten als einer Lernschwäche an die Seerosenschule kämen. Kinder also, die vielleicht in der Steinhöringer Korbinianschule besser aufgehoben wären. Doch auch der Leiter der dortigen Einrichtung für geistig und mehrfach Behinderte, Markus Schmidt, berichtet von zunehmenden Schülerzahlen. Die Inklusionsbemühungen an den Regelschulen hätten am Platzbedarf in Förderschulen offenbar nichts geändert, so die Vermutung von Jörn Bülck.

Tatsächlich, im bayerischen Vergleich gesehen, stagniert die Zahl der Kinder, die an Förderschulen unterrichtet werden, wie das Kultusministerium festgestellt hat. Wobei sie in den vergangene Jahren gesunken war. Möglicherweise hängt die von Bülck beschriebene Entwicklung im Raum Ebersberg mit einer Beobachtung zusammen, die die Schulpsychologin an der Realschule in Poing, Iris Effinger, gemacht hat. "Es werden mehr Diagnosen gestellt als früher." Besonders in Gebieten, in denen die Dichte der Kinder- und Jugendpsychologen hoch ist, sei das der Fall, erklärt Effinger, die als Mitarbeiterin der Dienststelle des Ministerialbeauftragten alle Realschulen in Oberbayern-Ost im Blick hat. Die Fallzahlen von Kindern mit besonderem Betreuungsbedarf seien in diesem Bereich "immens", die Wartezeiten für ein Erstgespräch beim Psychiater und selbst in der Hauner'schen Kinderklinik liege bei drei Monaten.

Allein in der Poinger Realschule gebe es 70 Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwäche, das sind zehn Prozent der Schülerschaft. "Und auch die Zahlen von Kindern mit sozialen und emotionalen Störungen werden immer höher", sagt Schulleiter Matthias Wabner. Einen Grund sieht er darin, dass Eltern heute früher zum Kinderarzt gingen, wenn ihnen an der Entwicklung ihrer Sprösslinge etwas komisch vorkomme.

An allgemeinen Regelschulen wurden im vergangenen Schuljahr nach Angaben aus dem Kultusministerium 20 300 Schüler inklusiv gefördert. Eingerechnet sind dabei die Kinder und Jugendlichen, die an Schulen mit dem "Schulprofil Inklusion" sonderpädagogisch gefördert werden, was in der Steinhöringer Korbinianschule der Fall ist. Neben Partnerklassen mit den Gymnasien in Grafing und Kirchseeon gibt es hier seit September vorigen Jahres eine erste gemeinsame Inklusionsklasse mit der Steinhöringer Grundschule.

Eine Befragung habe ergeben, dass die Inklusionsbemühungen ein wichtiges Argument für viele Eltern sei, ihr Kind an die Korbinianschule zu schicken, sagt Schulleiter Markus Schmidt. Die Klassen dort würden als "Zwischenglied" zwischen der Welt der Förder- und der Regelschulen gesehen. Schmidt plädiert aber dafür, sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes zu orientieren. Schon in der Grundschule gehe die Schere ja auseinander, aber spätestens in der Pubertät könne die Belastung für Jugendliche mit einer Behinderung sehr stark werden. "Es verliebt sich einfach kein Mädchen in einen geistig behinderten Buben", sagt Schmidt. Man solle die Kinder nicht in Watte packen, aber schon genau darauf schauen, ob ihnen ein inklusives System gerecht werde und gut tue. "Wir hier haben das Know how", sagt er, und zieht einen bildhaften Vergleich: "Wenn Sie einen Herzinfarkt haben, gehen Sie doch auch nicht zum Allgemeinarzt, um sich operieren zu lassen."

Ganz ähnlich sieht das Realschulrektor Wabner. Er sieht den Inklusionsbemühungen der Regelschulen - bei allem Engagement seines eigenen Kollegiums - Grenzen gesetzt und plädiert dafür, die Förderschulen - neben der Seerosen- und der Korbinianschule ist das noch die Grafinger Comeniusschule - als Pfeiler im Schulsystem zu erhalten. Ihre Abschaffung "brächte uns richtig in die Bredouille."

Schulpsychologin Effinger führt das Beispiel eines seh- und hörbehinderten Mädchens an, das sich nach ein paar Tagen in Poing doch für die Förderschule entschieden hatte. "Wir können zum Beispiel ein iPad zur Verfügung stellen, das ihr die Texte vorliest und die Stimme direkt auf das Hörimplantat überträgt", sagt sie. Ein entsprechender Schulversuch laufe gerade an der Poinger Realschule. "Aber ein zusätzliches Mobilitätstraining am Nachmittag können wir nicht anbieten." Bei den wenigen Budgetstunden, die er für Sonderförderung genehmigen könne, darunter eine einzige für die 70 Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche, sei so etwas nicht zu leisten, sagt auch Schulleiter Wabner. "Für Inklusion ist viel mehr notwendig."

Etwa mehr Personal für die Verwaltung, wenn an jedem Tag ein Kind von der Schule aufgrund einer sozialen Störung, an der es leidet, abgeholt werden müsse. Das binde Arbeitszeit der Mitarbeiterinnen im Sekretariat. Nötig sei auch eine gezieltere Vorbereitung der Lehramtsstudenten, damit sie Problemfälle überhaupt erkennen. Oft genug wollten Eltern selbst die Probleme ihrer Kinder nicht sehen oder nicht darüber sprechen. Schulpsychologen, von denen es noch nicht an allen Realschulen einen gibt, oder bestenfalls der Klassenlehrer sollte eine Störung aber erkennen können. "Beim klassischen Rollstuhlfahrer ist das kein Problem", sagt Wabner. Aber von Mutismus etwa habe er vor zehn Jahren noch keine Ahnung gehabt. Von Mutismus Betroffene verfallen in bestimmten Situationen oder auch in Gegenwart bestimmter Personen in Schweigen, bringen kein Wort mehr heraus. "Wenn ich nicht weiß, dass jemand Mutismus hat, dann bekommt er beim Ausfragen höchstens eine Fünf."

Es gebe aber auch jene Eltern, die mit einer Checkliste kämen, was ihr Kind dürfe und was nicht. "Da sind manchmal Forderungen dabei, die mit den Anforderungen einer Regelschule nicht konform gehen wie: Mein Kind darf nicht ausgefragt werden oder mein Kind hat Schulvermeidungsangst und darf nicht zur Schule gehen.

Bei aller größtmöglichen Offenheit liefen die inklusiven Bemühungen aber doch so ab, dass wenig davon im Schulleben zu spüren sei. "Wir machen schon sehr viel, was die Menschen gar nicht so wahrnehmen", sagt Effinger. "Und doch muss man den inklusiven Gedanken den Leuten in die Köpfe bringen."

© SZ vom 13.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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