Nach der Katastrophe von Tschernobyl:"Wir wussten einfach, ­dass wir helfen müssen"

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Mit großen Mühen stellte Ingeborg Nünke die Kontakte nach Weißrussland her. "Das war anfangs sehr beschwerlich", sagt sie. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Ingeborg Nünke über ihre Motivation, sich für weißrussische Kinder zu engagieren - und die vielen Hindernisse dabei

Von Heloise Olufs

SZ: Was war Ihr persönlicher Beweggrund für die Gründung der Initiative? Ingeborg Nünke: Zum Zeitpunkt der Katastrophe war mein jüngstes Kind gerade fünf Jahre alt und hat gerne im Wald gespielt. Als aber die giftige Regenwolke auch zu uns gezogen war, gab es immer wieder Momente, dass wir dem Jüngsten das Spielen draußen untersagen mussten, sodass er mich irgendwann gefragt hat: "Was darf ich denn jetzt überhaupt noch hier draußen?" Auf diese Frage hatte ich keine Antwort, denn von unserer Erde ging eine neue Bedrohung aus, das Urvertrauen war verloren gegangen. Und mit dieser Unsicherheit konfrontiert, haben mein Mann und ich uns bald gefragt, wie die Menschen vor Ort mit den Konsequenzen der Katastrophe umgehen - die hatten doch auch Kinder und waren bestimmt am Verzweifeln. Daraufhin wussten wir einfach, dass wir helfen müssen. Möglich war das aber erst 1991, als Gorbatschow die Grenzen geöffnet hat. Was waren dann die ersten Schritte? Uns war wichtig, einen persönlichen Kontakt zu einem kleinen Ort aufzubauen, sodass die Hilfe direkt ankommt. Ich habe dann einfach angefangen zu telefonieren: erst mit jemandem, von dem ich wusste, dass er Russisch studiert, der hat mich dann weitergeleitet, und so weiter. Am Abend bin ich telefonisch in Minsk gelandet, bei einer Initiative. Die habe ich dann gebeten, Kinder aus einem Dorf, aus einer Schule zu sammeln, und mir zu übermitteln. Ich würde dann versuchen, Gastplätze zu finden. Und so kamen Sie auf das Dorf Wolinzy? Über Umwege, ja. Beim ersten Mal, im Jahr 1991, hatten wir Besuch von überall her aus Weißrussland, manche Kinder kamen auch aus ungefährdeten Gebieten. In demselben Jahr war in meiner Familie ein Geschwisterpaar, das aus Wolinzy stammte. Dem einen der beiden Kinder habe ich bei der Abfahrt gesagt, er solle mir irgendeine Telefonnummer aus seinem Dorf schicken, sodass ich dann mit einer Dolmetscherin dorthin telefonieren könnte. Das hat er tatsächlich getan. Und wen hatten Sie dann am Telefon? Nina von der Post. "Wie geht es euch, wie lebt ihr", konnte ich sie dann fragen, "Habt ihr irgendwelche Schwierigkeiten?" Was Nina erzählte, erschütterte mich sehr: "Als der Unfall passiert war, haben wir erst gar nichts verstanden und man hat uns auch erst nichts gesagt. Aber wir haben bemerkt, dass man die Kühe und Kälber weggeschafft hat. Und dann irgendwann ist durchgesickert, dass etwas Schädliches abgeregnet ist. Aber uns, die Menschen, hat man hier gelassen." Für die Bewohner Wolinzys gab es nämlich keine sicheren Unterbringungsmöglichkeiten mehr. Also kommen heutzutage alle Kinder, die Sie betreuen, aus Wolinzy? Ja, entweder leben sie noch dort, oder sie haben mal dort gewohnt und die Kontakte sind erhalten geblieben. Gibt es in Wolinzy Kinder, die noch nie nach Bayern kommen konnten? Ja, wenn unser Bus mit 57 Kindern voll ist, fehlt eine Handvoll. Wir wollen alle 64 Kinder aus der Schule in Wolinzy einladen, gleichzeitig wollen wir diejenigen, die vielleicht nicht mehr auf diese Schule gehen, aber noch in Kontakt mit unseren Gastfamilien stehen, nicht ablehnen. Außerdem gibt es einige kleine Kinder, die sich aufgrund von Heimweh nicht nach Deutschland trauen, oder Kinder, deren Angehörige auf Pflege angewiesen sind. Welche Veränderung durchlaufen die Kinder dank ihrer Initiative? Wenn die Kinder in Bayern ankommen, sind sie ganz bleich und farblos, da kann man genau die deutschen von den russischen Kindern unterscheiden. Das ist kein Vergleich zu den Kindern, die nach vier Wochen wieder in den Bus steigen und heimfahren, denn ihr geschädigtes Immunsystem erholt sich nachweislich. Es prägt die Kinder außerdem sehr, wenn sie hier an einem Familienalltag teilhaben können: Sie sehen, dass die Eltern arbeiten und dass es Wohlstand durch Arbeit gibt. Auch verstehen sie die große Bedeutung von Bildung. Dann denken sie: Das könnte ich doch eigentlich auch machen. Denn was sie hier sehen, ist nicht das Paradies, sondern eine Abfolge von Möglichkeiten, die durch persönlichen Einsatz entstehen - das verstehen die Kinder. Und wenn sie dann heim kommen, haben sie ein anderes Vorbild als das, was in Wolinzy Alltag ist. Und sie besitzen neue Energie, etwas an ihrem Leben zu verändern. Wer sind die Menschen, die sich als Gasteltern melden? Das sind Menschen mit einem großen Herz für Andere. Sie müssen sich mal vorstellen: Eine Familie, die ihre Türen öffnet und sich selbst auch, die lassen einen fremden Menschen herein und Teil ihres Alltags werden. Hauptsächlich sind die Gasteltern jüngere Menschen mit Kindern, aber es gibt auch mal ältere Ehepaare. Und oft wird das Kind dann Teil der Familie und kommt immer wieder. Was waren die größten Probleme, auf die Sie während der vergangenen 27 Jahre gestoßen sind? Die Kommunikation mit Weißrussland war anfangs sehr beschwerlich. Man muss ja erst einmal die verschiedenen Zuständigkeiten verstehen und den sehr versteckten Ort Wolinzy kennenlernen. Gab oder gibt es irgendwelche Unterstützung von der weißrussischen oder der deutschen Regierung? Nein, Unterstützung bekommen wir nicht. Die Organisation sowie die Finanzierung unserer Unternehmungen müssen von dem Verein mit ehrenamtlichen Helfern und Spenden bewerkstelligt werden. Was befriedigt Sie an Ihrer Arbeit? Erst einmal hat man mit so vielen liebenswerten Menschen zu tun, das ist eine sehr große Bereicherung. Zum anderen freut mich natürlich zu sehen, dass die Kinder aus Wolinzy herauswachsen aus dem Dorf, dass sie sich entwickeln und dass sie so vieles lernen. Ich sage mir immer: "Wenn der ganze Aufwand nur einem einzigen Menschen geholfen hat, dann war er es wert."

© SZ vom 27.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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