Mitten in Grafing:Wie zerronnen, so gewonnen

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In und entlang der Bahn verschwindet so einiges, nicht zuletzt die Geduld

Von Jan Schwenkenbecher

In der S-Bahn geht schon mal was verloren. Tasche, Handy oder Geldbeutel sind die Klassiker, auf der MVV-Webseite gibt es bei den Fundsachen aber auch die Kategorien Brille, Kinderwagen und Tiere. Ende vergangenen Jahres vergaß ein Musikprofessor seine 100 000 Euro teure Geige. Doch nicht nur Materielles geht verloren. Blockieren Reisende die Tür, verlieren Lokführer zuweilen ihre Manieren bei der Durchsage. Und zudem ihre Pünktlichkeit. Versuchen sie sodann die verlorene Zeit wieder aufzuholen, verlieren gedankenverlorene Pendler zunächst die Haltung, dann den Boden unter den Füßen und schließlich mit den Nerven auch die Contenance. Sogar ganze Menschen können verschwinden, Anfang der Woche verlor die Bahn ihren Chef.

Der Experte im Verlieren war jedoch ein gewisser Hiob, seinerzeit der Ultra unter den Fans Gottes. Er verlor gleich alle seiner zehn Kinder und 11 000 Tiere. Zwar nicht in der Bahn, sondern durch epochale Feuerstürme und Hurrikane, die der Teufel höchstpersönlich heraufbeschworen hatte. Eine Gemeinsamkeit ist, dass sowohl Hiob als auch der moderne Pendler etwas lernen: Nichts auf der Welt geschieht ohne Grund. Wer sein Portemonnaie respektive seine Geige in der Bahn verliert, passt beim nächsten Mal besser auf. Ebenso, wer sich selbst in Gedanken und daraufhin an S-Bahn-Boden verliert. Und wer seine Stimme durch das Anbrüllen nerviger Fahrgäste verliert, lernt Gelassenheit.

So dient auch die verlorene Pünktlichkeit auf den zweiten Blick einem höheren Gut: Hat der Fahrgast seinen Anschlusszug verpasst und soll im eisigen Wind 23 Minuten warten, hilft er dem Taxifahrer, der seine Fahrgäste soeben am Bahnhofsvorplatz verloren hat. Ist gerade kein Taxi dort, kann er aber auch dem Verkäufer im DB-Service-Store mit den zwei Euro Kaufpreis eines Cappuccinos über dessen Verlust hinweghelfen. Hektisch wirbelte der nämlich neulich hinter dem Tresen herum, Schublade auf, wieder zu, nächste Schublade auf. Ob er etwas verloren habe? "Ja", bellte er zurück, "800 Euro."

© SZ vom 01.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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