Mitten in Ebersberg:Augen in der Kleinstadt

Lernhilfe? Spickzettel? Kurt Tucholskys „Augen in der Großstadt“ auf einem Karterl in Ebersberg. (Foto: Korbinian Eisenberger)

Wie ein kleiner rosafarbener Zettel Poesie in den grauen Alltag bringt

Kolumne Von Korbinian Eisenberger

Die Ebersberger Altstadtpassage ist oft so sauber gekehrt, dass im Auge nichts hängen bleibt außer farbloser Asphalt. Deswegen ist es besonders, wenn man einen rosa Zettel auf dem Boden findet. Es handelt sich um ein durchaus zerknittertes Exemplar, das an diesem Morgen verlassen und einsam vor dem Hintereingang des Alten Speichers liegt. Man muss das Papier nicht zwingend aufheben, kann man aber. Schließlich hat jemand etwas draufgeschrieben. Ein namenloser Autor.

Als Schriftstück wurde hier eine Karteikarte verwendet, das lässt auf einen Schüler schließen. Der Verfasser könnte sehr gut eine Verfasserin sein, weil die Punkte über dem i Kreise sind. Wobei, warum sollte ein Bub seine Buchstaben nicht auch mit Kringeln verzieren? Klugerweise ist das Karterl jedenfalls mit einem Kuli und nicht mit Füller beschrieben. So lässt sich die Schrift noch gut lesen.

Der morgendliche Fund ist entknittert und offenbart Lyrik: "Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen/Wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen/Da zeigt die Stadt Dir asphaltglatt/Im Menschentrichter Millionen Gesichter." Da hat es also Kurt Tucholskys "Augen in der Großstadt" bis in die Kleinstadt Ebersberg geschafft. Als Lernhilfe? Als Spickzettel? Oder als Notiz von einem, dem der Dichter einfach nur aus dem Herzen spricht? Wenn man in der Früh am S-Bahnsteig mit müden Augen in andere geknickte Gesichter schaut?

Motiv und Schreiber werden wohl für immer ein Geheimnis sein. Es bleibt die Erkenntnis, dass ein zerknitterter Zustand am Morgen die Entfaltung fördert.

© SZ vom 22.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: