Mitten in der S-Bahn:Werbung und Wirklichkeit

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Wie die S6, irgendwo hinter Grafing, von Zauberhand zur S4 wurde und was sonst noch bei der Bahn nicht zusammenpasst.

Von Jan Schwenkenbecher

Da stehen sie und schauen. Schauen hilflos vom Bahnsteig in Kirchseeon und Eglharting, suchen Antworten. Suchen in den im Zug vorbeirauschenden Gesichtern der Auserwählten nach Erklärungen. Blicken in ebenso ratlose Gesichter, derjenigen, die das Glück haben, schon im Zug zu sein. Die einen sind drinnen, die anderen dürfen nicht rein. "Wegen einer betrieblichen Anordnung hält diese S-Bahn heute erst wieder in Grafing Bahnhof." Die Bahn kommt!

Es sind nicht nur diejenigen, die den Weg zur Arbeit suchen. Nicht nur die, die zum Arzt oder aufs Amt wollen. Nicht nur die Fahrgäste. Auch die Bahn kommt nicht gerne zu spät. Ab 20 Minuten Verspätung kann der Fahrgast einen anderen Zug nehmen und die Bahn muss bezahlen. Weitaus schlimmer aber: Verspätungen ziehen Verspätungen nach sich. Die Schienen sind voll, der Fahrplan ist eng. Fährt ein Zug nur ein paar Minütchen zu spät los, müssen andere Züge warten. Ein Schmetterlingseffekt, durch den sich eine klitzekleine Verspätung - etwa durch einen fast-verspäteten Zornedinger, der sich in eine schließende Tür wirft, die dann wieder aufgeht - zu einem apokalyptischen Chaos in Hamburg Altona auswachsen kann. Doch die Bahn (etwa 12 000 Fahrdienstleiter reinste Schwarmintelligenz regeln den Verkehr auf Deutschlands Schienen), wäre nicht die Bahn, wenn ihr nicht auch dazu eine Lösung einfallen würde: Der Zug fällt aus. Diese Zeit gehört Dir.

Da steht man nun in Ebersberg, will nach einem anstrengenden Arbeitstag nichts sehnlicher, als ruhig über die Schienen gen Heimat gleiten, ein gutes Buch auf den Knien. Stattdessen soll man nun 40 Minuten in der eisigen Abendkälte auf dem Bahnsteig ausharren. Alle reden vom Wetter. Wir nicht.

Doch plötzlich fährt ein mutiger Zugführer mit seinem Zug ein und der Bahn in die Parade. Verkündet, nicht ohne Stolz in der Stimme - als gedenke er statt eine Lok auf gelegten Gleisen eine Personenkutsche auf einer wackeligen Hängebrücke über einen infernalen Abgrund zu steuern: "Ich fahre." Und so fuhr die S6, und fuhr und fuhr. Zugegeben, zehn Minuten nach Plan. Doch sie fuhr. Die Bahn macht mobil.

Dummerweise - aus Sicht der Fahrplanleitung - mit Verspätung. Doch was sollte sie tun? Wie sollte sie einen so volksnahen, so selbstbestimmten Lokführer, der tat, was im Plan des Fahrens nicht vorgesehen war, bloß stoppen? Den Zug wieder aufs rechte Gleis lenken? Doch die Bahn (nach eigenen Angaben kamen im letzten Jahr 94 Prozent der Züge pünktlich), wäre nicht die Bahn, wenn ihr nicht auch hier ein logistischer Coup gelingen würde. Irgendwo hinter Grafing, ohne dass es auch nur einer der Passagiere bemerkt hätte, wurde aus der S6 wie aus Zauberhand die S4. "Liebe Fahrgäste", meldete sich daraufhin in Kirchseeon zähneknirschend der vormals so heroisch anmutende Lokführer, "wir müssen etwa zehn Minuten warten, wir sind zu früh." Intelligenter reisen.

© SZ vom 07.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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