Kommentar:Wann, wenn nicht jetzt?

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Unerwartet früh bietet sich Grafing die Chance für eine echte Verkehrsberuhigung am Marktplatz. Der Zeitpunkt dafür könnte besser nicht sein

Von Thorsten Rienth

Während es wegen zurückgehender Einnahmen aus der Einkommen- und Gewerbesteuer zuletzt finanzpolitisch praktisch keinerlei guten Nachrichten aus Grafing gab, folgen jetzt richtig gute Neuigkeiten aus dem Ressort der Stadtplanung: Ist der Ausbau der EBE8 fertig, könnten die Formalitäten zur Herabstufung der bislang über den Grafinger Marktplatz verlaufenden Staatsstraßen zu einfachen Ortsstraßen beginnen, vermeldete Bauamtsleiter Josef Niedermaier am Dienstag. Dass dies so schnell geschehen kann, hatte fast niemand gedacht. Selbst Kenner der Materie hätten nicht vor 2022 oder 2023 damit gerechnet.

Für Grafing könnte sich damit eine Sache fügen, an der die Stadt praktisch seit dem Amtsantritt des früheren Bürgermeisters Rudolf Heiler im Jahr 1996 arbeitet: einem Marktplatz, der seinen Namen verdient. Einer, der nicht länger als Knotenpunkt für den Autoverkehr herhalten muss. Denn sobald alle Straßen um den Marktplatz nur mehr Ortsstraßen sind, kann Grafing ernsthaft gestalten. Keine Autos mehr auf der Marktplatz-Westseite zwischen Raiffeisenbank und Mariensäule? Kein Problem. Eine parkplatzfreie Mittelinsel mit echter Aufenthaltsqualität? Die Stadt müsste nur wollen. Umfassende Barrierefreiheit im Stadtzentrum, neue Wegemarkierungen für Kinder oder Radschutzstreifen? Shared-Space-Flächen, auf denen Autos auf Radfahrer und Fußgänger achtgeben müssen und nicht mehr andersherum? Nur mehr ein Beschluss vom Bauausschuss wäre nötig. Natürlich ist in der Praxis alles ein bisschen komplizierter. Aber man darf schon feststellen: Geht es um den Marktplatz, ist in absehbarer Zeit das höchste Level der kommunalen Selbstbestimmung erreicht.

Spannend wird es, wie der Stadtrat diesen dann deutlich vergrößerten Aktionsradius interpretiert. Oder anders: Wie ernst all die schönen Marktplatzszenarien aus den Kommunalwahlkampfbroschüren gemeint waren. Gefordert sind dabei nun vor allem die größte Stadtratsfraktion und die zweitgrößte, also CSU und Grüne. Letztere müssen Teilen ihres Klientels klarmachen, dass aus dem Marktplatz nicht gleich eine Yoga-Wiese wird. Die CSU muss Teilen des ihrigen erklären, dass es nicht länger ein Anrecht darauf gibt, in Fünfzehn-Meter-Distanz vor Reinigung, Metzgerei, Wirtshaus, Apotheke, Bäckerei, Sparkasse oder Schreibwarenladen zu parken. Sondern dass es solche Parkplätze bald nur noch für jene gibt, bei denen der Behindertenausweis hinter der Windschutzscheibe liegt. Wann, wenn nicht jetzt, wäre ein besserer Zeitpunkt für all das? Gewählt wird erst in fünfeinhalb Jahren wieder. Zeit genug, um die Kritiker mit einem neuen Marktplatzkonzept zu überzeugen.

© SZ vom 24.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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