Kommentar:Redezeit statt Schweigeminute

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Besonders bei Teenagern gibt es zu dem Amoklauf in München viele Fragen und Ängste - die Schulen reagieren darauf aber nicht

Von Karin Kampwerth

Dienst nach Vorschrift, Unterricht nach Stundenplan: Es macht nachdenklich, wie Schulen im Landkreis nach dem furchtbaren Amoklauf von München nur drei Tage später zur Tagesordnung übergegangen sind. In der letzten Woche in diesem Schuljahr stehen Projekttage an. Die einen gehen ins Waldmuseum, die anderen in den Wildpark, viele Klassen hatten einen Ausflug nach München geplant.

München, die Stadt, die sich keine 72 Stunden zuvor im Ausnahmezustand befand, nachdem ein 18-Jähriger neun Menschen ermordet und anschließend sich selbst getötet hat. Die Opfer: Teenager. Im Alter vieler Mittel- und Realschüler oder Gymnasiasten, die bei dem Gedanken an einen Ausflug in die Stadt am Montagmorgen ein diffuses Gefühl der Angst beschlich. Wer einen Sohn oder eine Tochter in diesem Alter zu Hause hat, wird mitbekommen haben, dass die Kinder am Wochenende in ihren Klassenchats kein anderes Thema kannten. Dass viele von irgendwem wussten, der irgendjemanden kennt, der irgendwie von den Ereignissen betroffen war. Die Schulfreundin, die im OEZ beim Shoppen war, als der Amokläufer im Mcdonald's um sich schoss. Die Vaterstettener Realschüler, die im Bayerischen Hof ihren Abschluss feiern wollten und dort festsaßen, als auf den Straßen bis an die Zähne bewaffnete Polizisten patrouillierten. Die Freundin aus dem Sportverein, deren Vater Busfahrer auf der OEZ-Linie ist und zur Zeit des Anschlags das Einkaufszentrum anfuhr.

Der Amoklauf traf junge Menschen mitten in ihr Leben. Shoppen gehen, Besuche in Schnellrestaurants, sich über soziale Medien verabreden, das alles schien bis Freitagabend nicht nur normal, sondern in einem Alter, in dem sich Teenager unverwundbar fühlen, hundertprozentig sicher. Und dann schleicht sich das Unfassbare ins Bewusstsein - die herzzerreißende Erkenntnis, dass das Leben, selbst wenn es noch ganz jung ist auf einmal vorbei sein kann. Das macht erstmal Angst - auch vor einem Ausflug in eine Stadt, in der so etwas plötzlich möglich geworden ist.

Umso wichtiger wäre es gewesen, den Schülern Redezeit zu geben, wie es dazu kommen konnte. Mobbing. Verschmähte Liebe. Das unendliche Tief, in das das Hormondurcheinander einen pubertierenden Jugendlichen von hier auf jetzt schubsen kann. Alles Themen, zu denen Teenager etwas zu sagen hätten. In einer vertrauten Gruppe, in der Klassengemeinschaft, mit oder ohne Lehrer. Stattdessen gab es Schweigeminuten, ein halbschariges Gesprächsangebot und die Tagesordnung. Wo doch so viel zu besprechen wäre. Offenbar war das nur den Pädagogen in Poing bewusst.

© SZ vom 26.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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