Kommentar:Online-Shopping mit Augenmaß

Lesezeit: 2 min

Digitalisierung in den Schulen hat durchaus Vorteile - wenn man nicht wahllos die Klassenzimmer mit Elektronik vollstopft, die keiner mehr bedienen kann

Von Victor Sattler

Der kalte Schweiß bricht ihm aus, als Franz Kien in Alfred Anderschs Erzählung "Der Vater eines Mörders" an die Tafel gebeten wird und bereits auf dem Weg nach vorn mit seinem Griechisch am Ende ist. Heute, 89 Jahre nachdem die Handlung spielt, jagt den Schülern keiner mehr so leicht Angst ein, aber dafür kommen die Lehrer ins Schwitzen, wenn sie ihre Tafel auch nur anschauen: Denn seit ein paar Jahren hängen in jeder Schule, die etwas auf sich hält, auch interaktive Whiteboards.

Für Lehrer ab einem gewissen Alter ist das der letzte Nagel im Sarg ihrer Autorität. Unbeholfen vor der Klasse zu stehen, nichts zum Laufen bringen zu können, auf einmal unvorbereitet und fahrlässig auszusehen, weil man das digitale Unterrichtsmaterial einem Ding übergeben hat, in dessen Abhängigkeit man zunehmend gerät. Das fühlt sich im Grunde an wie in Unterwäsche zur Schule zu kommen. Was können wir von so einem denn schon lernen?, denkt jeder im Raum spätestens jetzt.

Damit erscheinen viele der bisherigen Digitalisierungs-Bestreben auch schizophren und halb gar: Weil jeder sein eigenes Ding macht und weder links noch rechts schaut. "Smarte" Anwendungen sind so dezentral und selbsterklärend, dass jeder, der einen Login bekommt, auf sich allein gestellt bleibt. Die Technikhersteller können auf diesem Wege einen weiteren Lebensbereich kommerzialisieren, die Rektoren und Konzepte-Macher dürfen sich Trends und Fortschritt auf die Fahne schreiben, die Schüler profitieren vom Luxus getippter Skripte. Nur die Lehrer bleiben auf der Strecke.

Wer die Sorgen des einzelnen Lehrers nicht ernst nimmt und keine Fortbildungsangebote oder Unterstützung für ihn schafft, trägt auch weiter zur Ächtung des Lehrstands bei. Ähnlich passierte es in der Debatte um G 8 und G 9: Egal auf welcher Seite man stand, die Fehler hätte man beim Kultusministerium suchen müssen, aber die Augendreher, Nasenrümpfer und bösen Zischer von Seiten der Kritiker bekamen oft - richtig - die einfachen Lehrer ab. Eine Berufsgruppe, von der wir aus Prognosen wissen, dass wir in Zukunft weit mehr brauchen als haben werden, und die schon jetzt niemand um mehr als vielleicht ihre Beamtenpension beneidet.

Es gilt also Vorsicht beim Online-Shopping und Aufrüsten der Schulen. Alle miteinander eint das gute Ziel, der nächsten Generation digitale Kompetenzen von Anfang an mit auf den Weg zu geben, um sie realistisch darauf zu vorbereiten, wie ihr Berufsleben mit großer Wahrscheinlichkeit aussehen wird. Dafür braucht es immer jemanden im Raum, der diese Kompetenzen vermitteln kann und der schon weiß, was er da tut. Wenn Kaufkraft und Können weiter auseinanderdriften, wird es mit den Lehrern der Baby-Boomer-Generation in den nächsten Jahren noch zu genug Pleiten und Peinlichkeiten vor Whiteboard und Tablets kommen, um den Kleinen auch gleich klar zu machen: "Wer bei uns nicht mithalten kann, ist nutzlos."

© SZ vom 09.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: