Kommentar:Fehler im System

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Der Gesetzgeber ist angesichts der Vorfälle in Vaterstetten gefordert, Klarheit zu schaffen. Selbst wenn sich die Vorwürfe nie mit letzter Gewissheit klären lassen sollten, darf sich so etwas nie und nirgends wiederholen

Von Wieland Bögel

In Film und Literatur ist es ein bekannter Topos: Das Dilemma des Beichtvaters. Was ist höher zu bewerten, das heilige Beichtgeheimnis oder die irdische Gerechtigkeit? Ein bisschen fühlt man sich an dieses Beichtvaterdilemma erinnert, angesichts der Begründung aus dem Landratsamt, warum man sich nicht in die Merkwürdigkeiten rund um die Listenaufstellungen der AfD einmischen wollte. Kirchenrecht musste man zwar nicht in Stellung bringen, aber immerhin eine der Behörde obliegende Neutralitätspflicht. Dennoch wäre es zu einfach, jetzt mit dem Finger auf die Verantwortlichen im Landratsamt zu zeigen, das Problem liegt anderswo.

Herauszufinden, ob Kandidaten wirklich Kandidaten sein wollen - oder im Extremfall überhaupt wissen, dass sie Kandidaten sind - ist nicht Aufgabe der Wahlaufsichten in den Rathäusern und Landratsämtern. Angesichts der Vorgänge in Vaterstetten könnte man jetzt natürlich fragen: Warum nicht? Die Antwort ist je nachdem eher länglich - oder ganz kurz. Die längliche befasst sich mit Rechtsgeschichte, freier und geheimer Wahl, Bürgerrechten, staatlicher Neutralität und vielem mehr, wer noch Stoff für eine Doktorarbeit sucht, wird hier sicher fündig. Die kurze Antwort ist aber wohl: Weil der Gesetzgeber nie davon ausgegangen ist, dass Kandidaten keine Kandidaten sein wollen und auch nicht von ihrem Kandidatenstatus wissen. Denn es ist gut möglich, dass die nun in Vaterstetten aufgekommenen Vorgänge - zumindest in dieser Größenordnung - einmalig sind. Dass zwölf Personen ihre Kandidatur zurückziehen, sieben weitere es nicht mehr fristgerecht schaffen und die meisten davon angeben, sie seien nach Art eines Haustürgeschäfts ausgetrickst worden, dürfte wirklich ein Präzedenzfall sein. Möglicherweise wird dieser irgendwann einmal die Gerichte beschäftigen - ein Ermittlungsverfahren läuft ja bereits. Darin geht es ausgerechnet darum, dass jemand seine gesetzliche Neutralitätspflicht verletzt haben soll, indem er oder sie unfreiwillige Kandidaten "gewarnt" haben soll. Ob dies wirklich passiert ist, muss nun die Polizei klären.

Klarheit sollte aber auch der Gesetzgeber schaffen. Denn es gibt ganz offensichtlich eine Lücke im Wahlgesetz, die in Vaterstetten mit großer Wahrscheinlichkeit ausgenutzt wurde. Selbst wenn sich die Vorwürfe nie mit letzter Gewissheit klären lassen sollten, wäre es dringend geboten, dafür Sorge zu tragen, dass sich so etwas nie und nirgends wiederholt. Das Beichtgeheimnis lässt es übrigens zu, Personen zu warnen, von deren Gefährdung man in der Beichte erfahren hat - diese Ausnahme sollte doch auch für die Neutralitätspflicht gelten.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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