Kommentar:Ernsthaftigkeit gefragt

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Im Grafinger Bauausschuss kommt eine seltene fraktionsübergreifende Betroffenheit auf: Es müsse endlich mehr getan gegen die Wohnraumproblematik von Geringverdienern. So richtig diese Feststellung ist, so deutlich muss die Frage anschließen. Warum kommt sie erst jetzt?

Von Thorsten Rienth

Wer einen Blick in die Geschichtsbücher wirft und die Kapitel aus den 1950er und 1960er Jahren aufschlägt, der kann so einiges erfahren über die damalige Wohnraumplanung. Zum Beispiel, wie Unternehmer nicht nur eine Fertigungslinie nach der anderen in Betrieb nahmen. Sondern sie nebenan auch gleich Wohnungen für die Werker aufeinanderstapelten. Geschichte wiederholt sich. Geht es nach der SPD, soll das geplante Grafinger Kinderzentrum in der Forellenstraße um ein drittes Stockwerk erweitert werden. Je nach Rechnung könnten darauf bis zu zehn Wohnungen entstehen - von der Stadt zu vermieten an das naturgemäß mies bezahlte Personal aus dem sozialen Dienstleistungsbereich.

Von der CSU über die Bayernpartei bis zu den Grünen spannte sich im Bauausschuss eine seltene fraktionsübergreifende Betroffenheit auf: Es müsse endlich mehr getan gegen die Wohnraumproblematik von Geringverdienern. So richtig diese Feststellung ist, so deutlich muss die Frage anschließen. Warum kommt sie erst jetzt? Weder sind die steigenden Grafinger Quadratmeterpreise eine Überraschung. Noch ist dies das Gehaltsniveau der allermeisten Berufe im sozialen Bereich. Es droht, dass bald nicht mehr fehlende Räumlichkeiten den Ausbau zum Beispiel der Kinderbetreuung begrenzen, sondern fehlendes Personal.

Betroffenheitsbekundungen, wie sie am Dienstag besonders laut aus der CSU-Fraktion zu hören waren, helfen wenig. Zumal an deren Ernsthaftigkeit Zweifel erlaubt sind: Sorgen, denen dann sogar der Bauamtsleiter widersprach, bereitete der CSU vor allem die Parkplatzsituation. Und die Befindlichkeiten eines Grundstückseigentümers.

Ansatzpunkte, um den lokalen Wohnungsmarkt gerade für Leute aus dem unteren Ende von Tarifverträgen etwas zu entschärfen, liegen nicht fern. Eine Option mit Hebelwirkung wäre die Neuausrichtung der städtischen Wohnbaupolitik. Wer sich in Grafings neuen Baugebieten eine Doppelhaushälfte leisten kann, ist nun wirklich nicht mehr auf eine Finanzspritze in Form der sogenannten Einheimischenförderung angewiesen. Der städtische Geschosswohnungsbau dagegen schon. Zudem kommt er mit dem Charme daher, dass sie Stadt weitgehend selbst entschieden kann, mit wem sie dann die (günstigen) Mietverträge unterzeichnet. Etwa mit der Belegschaft der örtlichen Kitas oder Pflegeeinrichtungen.

© SZ vom 29.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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