Kommentar:Die Grenzen der Verrohung

Lesezeit: 1 min

Die Messer-Attacke von Grafing hinterlässt Angst, aber vor allem Ratlosigkeit und Bestürzung

Von Korbinian Eisenberger

In Grafing konnte man am Dienstag und Mittwoch von einem Ausnahmezustand sprechen. Nicht nur wegen des Messer-Attacke am Bahnhof, sondern auch, weil die Kleinstadt für zwei Tage zum zentralen Punkt des bundesweiten Medieninteresses wurde. Plötzlich war eine Flut an Übertragungswagen und Reportern über den Ort hereingebrochen, sogar die englische BBC hatte ein Filmteam nach Oberbayern geschickt. Im Internet wird seither über die Frage diskutiert, ob der Rummel übertrieben war oder nicht. Ein Todesopfer und drei Verletzte, argumentieren die Kritiker, da hätte es auch etwas weniger Bohei getan. Vielleicht hätte es das. Und trotzdem ist es gut, dass der Bohei gemacht wurde.

Dass die Bluttat von Grafing bundesweit in den Hauptnachrichten gesendet wurde, ist zweifelsohne auf die Eindrücke zurückzuführen, unter denen Menschen und Medien in diesen Zeiten stehen. Menschliche Abgründe und die Angst vor Terror haben sich in die Köpfe eingebrannt, das kollektive Bewusstsein der Gefahr wurde auch in Oberbayern sensibilisiert. Die Worte "Allahu Akbar", mit denen der Angreifer zitiert wurde, befeuerten das Interesse an schneller und überregionaler Presseberichterstattung.

Dass auch 40 Stunden nach der Bluttat getrauert, berichtet und ein Gedenkgottesdienst abgehalten wurde, ist dennoch wichtig und richtig. Schon allein deshalb, weil es Länder gibt, in denen ein erstochener Mensch längst keinen Polizeieinsatz mehr auslöst. Ein bayerischer Radiosender, der ebenfalls aus Grafing berichtete, geht sogar noch weiter und wirbt mit einem Slogan, wonach "bei uns in Bayern die Welt noch in Ordnung" sei.

Dass diese Behauptung verkehrt ist, zeigt sich in Grafing, wo vorzugsweise Eishockeyfans und Volksfestbesucher randalieren, oft genug. Der öffentliche Umgang mit dem Fall Grafing-Bahnhof zeigt aber, dass die Verrohung der Gesellschaft sich noch nicht in ihrer Gänze entfaltet hat. Ein willkürlich auswählender Messerstecher, dessen Angriff jeden hätte treffen können, wird in Bayern noch als das wahrgenommen, was es ist: Eine Tragödie, die einen ratlos mit der Frage zurücklässt, ob die Gesellschaft sie vielleicht hätte verhindern können.

© SZ vom 13.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: