Jubiläum:"Mein Herz hängt an Grafing"

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Hildegard Lösch hat 1946 als Lehrerin das Grafinger Gymnasium mitgegründet. Diese Woche feiert sie ihren 95. Geburtstag

Von Antonia Heil, Ebersberg

Es ist das Jahr 1946. München liegt in Schutt und Asche, die Amerikaner sind im Lande. Es geht ums nackte Überleben. Deswegen bleibt eigentlich keine Zeit, sich um die Schulbildung für Kinder zu kümmern. Was Hildegard Lösch gemeinsam mit zwei anderen Lehrern damals in Grafing vollbracht hat, ist also umso bewundernswerter: Sie haben das Grafinger Gymnasium gegründet. Am kommenden Mittwoch, 24. August, wird sie nun 95 Jahre alt. Obwohl sie heute in Bad Reichenhall lebt, hat sie noch immer eine starke Bindung zu Grafing und seinen Bewohnern: Lösch nahm von Anfang an großen Anteil am Leben ihrer Schüler und hielt mit vielen von ihnen über die Jahre den Kontakt. Gerade für die Schülerinnen und Schüler der allerersten Klasse ab 1946 war sie eine wichtige Bezugsperson. Deswegen machen diejenigen, die noch leben - alle haben die 80 Lebensjahre längst überschritten - ihr ein besonders persönliches Geburtstagsgeschenk: Ein Leporello, bei dem jeder eine Seite selbst gestaltet hat. "Sie hat sich einfach immer um uns gekümmert", erzählt Christine Ferche, eine ehemalige Schülerin der ersten Stunde. "Jeder von uns war ihr wichtig. ,Mutti' nannten wir sie deswegen."

Der erste Jahrgang der weiterführenden Schule in Grafing. Über die Hälfte der Schüler waren Flüchtlinge. (Foto: privat)

Lösch wurde 1921 in Gilgenberg bei Burghausen geboren. Zu Beginn ihres Lebens war Gilgenberg noch österreichisches Territorium, das Land wurde dann aber schnell von der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland annektiert. Als Deutsche war es für sie dann kein Problem mehr, bei den Englischen Fräulein in Augsburg das Internat zu besuchen, wohin ihre Tante gute Beziehungen hatte. "Dort habe ich 1940 Abitur gemacht", erinnert sich die alte Dame, "Im Rückblick kann ich sagen, dass mich diese Jahre im humanistischen Gymnasium sehr geprägt haben." Nach dem Arbeitsdienst trat sie ihr Studium in München an: Latein, Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Weil ihr Bruder 1944 im Krieg fiel, brach sie ihr Studium knapp vor dem Ende ab und zog nach Hause zu ihrer Mutter. Als sie dann kurz nach Kriegsende die Schule in Grafing mitgründete, musste sie also während des Unterrichtens noch ihr praktisches Jahr und ihre Examina an der Universität nachholen. "Es war eine harte Zeit", sagt sie ernst, "zumal wir auch nur zwei Drittel unseres Gehalts bekamen. Aber wir haben es sehr gerne gemacht, vor allem für die Kinder."

Hildegard Lösch (blauer Mantel) im Kreise ihrer ehemaligen Schüler. (Foto: privat)

Mehr als die Hälfte der Schüler in der ersten Klasse waren Flüchtlinge. Sie kamen aus Schlesien, Ostpreußen und Oberitalien. Die Integration funktionierte gut - auch dank Hildegard Löschs Arbeit. Gerade für diese Kinder sah es damals nicht rosig aus. Die meisten von ihnen waren mit ihren Familien nach Grafing und Umgebung in die "gute Stube" bei Bauern einquartiert worden, weil zu ihrem Wohnort die Front vorgerückt war. "Da konnte man nette Familien erwischen, aber auch Pech haben", erzählt Christine Ferche, die aus Schlesien kommt. "Der Bauer, bei dem ich mit meiner Familie unterkam, war vorher bei der Gestapo gewesen. Er hat mir zum Beispiel den Schlauch an meinem Fahrrad systematisch zerstochen. Sein Sohn nahm mich dann heimlich auf seinem Rad mit zur Schule." Die Kinder der Einheimischen und Flüchtlinge gingen gemeinsam in eine Klasse und lernten sich so gegenseitig schätzen. Schulunterricht zu geben, war aber zunächst sehr schwierig. Ein Zweckverband ermöglichte die Gründung der Schule. Untergebracht erst kurzzeitig in einer Turnhalle und dann in der Alten Villa, gab es erst einmal überhaupt keine Schulbücher. Die Kinder lernten deswegen Stenografie.

Ihre ehemaligen Schüler schenken Lösch zum Geburtstag ein Heft mit Erinnerungsfotos. (Foto: privat)

All diese Widrigkeiten meisterten Hildegard Lösch und ihre Mitstreiter: Sie etablierten die Oberschule Grafing, im Jahr 1946 eröffnete die erste weiterführende Schule im Landkreis Ebersberg überhaupt, die 1965 dann in "Gymnasium Grafing" umbenannt wurde. Hildegard Lösch war da aber nicht mehr dabei, sie ließ sich zuvor an ein Gymnasium in München versetzen, weil sie dort Latein unterrichten konnte. "Grafing ist aber heute immer noch ein wichtiger Teil von mir", sagt sie. Ferche bestätigt das: "Auch wenn wir Schüler uns nach dem Realschulabschluss in alle Winde bis in die USA zerstreut haben, wir fühlen uns alle immer mit Grafing verbunden. Und unsere ,Mutti' gehört einfach dazu."

Hildegard Lösch war mit Leib und Seele Lehrerin, ihr Beruf erfüllte sie und nahm all ihre Zeit in Anspruch. Nach ihrer Pensionierung konnte sie dann viele Dinge tun, die auf der Strecke geblieben waren. Sie lernte viele Sprachen und ihre Reisen führten sie unter anderem sogar nach Russland. Bis ins hohe Alter ist sie neugierig und wissbegierig geblieben. Genau wie "ihre" Sprösslinge, mit denen sie sich regelmäßig auf Klassentreffen trifft. Da geht es nicht nur ins Wirtshaus, sondern man bucht auch mal eine historische Kirchenführung. Zu ihrem 95. Geburtstag bringen ihre ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihr nun ganz individuell gestaltete Glückwünsche dar. Aber das eigentliche Geschenk ist nicht der gebastelte Leporello, sondern die tiefe Freundschaft, die Schüler und Lehrerin seit 70 Jahren miteinander verbindet.

© SZ vom 23.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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