Inklusion - auch beim Personal:Die Chance des Defizits

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In zwei Kitas von Kinderland arbeiten Mitarbeiterinnen mit einer Behinderung - eine ist auf einen Rollstuhl angewiesen, die andere hat ein eingeschränktes Hörvermögen. Leiterin Maria Boge-Diecker sieht das als Möglichkeit, den Kleinen beizubringen, dass Andersein normal ist

Von Johanna Feckl, Poing/Vaterstetten

Ingrid Huber-Zapf arbeitet als Erzieherin. Und sie könnte eine Gefahr für Kinder darstellen. Diese Sorge hatten einige Eltern ihr gegenüber tatsächlich so geäußert, erzählt die 57-Jährige. Die Eltern seien der Meinung gewesen, dass sie ihre Kinder im schlimmsten Falle erdrücken könnte. Nein, nicht weil die 57-Jährige die Kleinen so fest umarmt. Sondern weil sie schließlich auf sie fallen könnte. Damals sei Huber-Zapf an zwei Krücken gegangen, erzählt sie. Sie leidet an einer Nervenkrankheit. In den vergangenen Jahren hat das ihre Mobilität sehr eingeschränkt. Als an einem Regentag das strömende Nass von oben den Boden glitschig machte, rutschte sie aus. Vor den Augen einiger Eltern. Nicht auszumalen, wenn einer der Sprösslinge zwischen die fallende Erzieherin und den nassen Boden geraten wäre! Ein Sicherheitsrisiko! So oder so ähnlich müssen die Gedanken derjenigen Eltern gewesen sein, die Huber-Zapf und die Kita-Leitung nach diesem Vorfall mit eben dieser Sorge konfrontierten. Das alles liegt schon einige Jahre zurück. Wenn die 57-Jährige heute davon erzählt, schüttelt sie leicht den Kopf.

In der zentralen Geschäftsstelle der Betreuungseinrichtungen von Kinderland Plus in Poing nimmt Maria Boge-Diecker einen Schluck aus ihrer Tasse Kaffee. Seit zweieinhalb Jahren ist sie dort Geschäftsführerin. Sie spricht über eine Konvention der UN. Seit 2009 gilt dieses Übereinkommen auch in Deutschland. Dort wird eine "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft" und "die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit" verlangt. Inklusion heißt das im Fachjargon: Alle Menschen sind gleichermaßen Bestandteil der Gesellschaft, ob groß oder klein, dick oder dünn, behindert oder nicht behindert - ganz egal. "Anders sein ist normal", sagt Boge-Diecker. Dass Ingrid Huber-Zapf für ihre Einrichtung in Parsdorf arbeitet, ist für sie deshalb genau das: normal. Ob mit einer Krücke, mit zweien oder wie mittlerweile mit einem Rollstuhl.

"Frau Huber-Zapf ist eine sehr gut qualifizierte Mitarbeiterin - warum sollten wir auf sie also verzichten", fragt Simone Klein, die für die Öffentlichkeitsarbeit der Kinderland-Einrichtungen zuständig ist. Dass diese Frage eine rhetorische ist, merkt man spätestens, wenn man mit der 57-jährigen Erzieherin über ihre Arbeit spricht. Reagieren die Kinder anders auf sie, weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist? Huber-Zapf zuckt mit den Schultern. "Eigentlich überhaupt nicht." Der Rollstuhl gehöre zu ihr, "das bin nun einmal ich". Eine Selbstverständlichkeit gewissermaßen. Das sieht nicht nur sie so, sondern wird ihr auch von den Kindern widergespiegelt: Selten komme es vor, dass eines von ihnen sie auf den Rollstuhl anspricht - der scheint in ihren Köpfen fest verankert mit Huber-Zapf zu sein, sie kennen sie nicht anders.

Die Kunstpädagogin Melanie Happe hat ein eingeschränktes Hörvermögen, mit den Kindern versteht sie sich dennoch bestens. (Foto: Christian Endt)

Für Boge-Diecker und Klein umfasst Inklusion, für jeden Menschen mit seinem individuellen Unterstützungsbedarf eine Lösung zu finden. Denn freilich kann Huber-Zapf einige Dinge nicht leisten, die jemand ohne Nervenkrankheit wahrscheinlich schon könnte. Einem Kind hinterhersausen etwa. Deshalb stellt Kinderland Huber-Zapf auch eine Hilfskraft zur Seite. Das bedeutet finanzielle Mehrausgaben, das gibt Boge-Diecker ohne Umschweife zu. Aber: "Wir sehen sehr gerne und sehr schnell vermeintliche Defizite - und selten das, was dadurch aber auch alles überhaupt erst möglich ist!"

Mit Huber-Zapf beispielsweise würden sich die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe unterhalten können. Das erleichtere in vielen Fällen die Kommunikation und die Vertrauensbasis von Seiten der Kleinen. Und bei Melanie Happe können die Kinder etwas anderes lernen: Die 27-jährige Kunstpädagogin arbeitet in einer Poinger-Kinderland-Einrichtung. Sie hat ein eingeschränktes Hörvermögen - den Kleinen wird klar, dass auch Sinnesfähigkeiten nicht selbstverständlich sind.

Durch eine Gehirnhautentzündung im Kleinkindalter verlor Happe ihr Gehör. Seit 25 Jahren trägt sie hinter ihrem rechten Ohr ein Transplantat, mit dessen Hilfe sie hören kann. Seit sieben Jahren auch hinter dem linken. Das Hören der 27-Jährigen ist aber ein anderes Hören als bei Menschen ohne Implantate: So kann sie beispielsweise Geräusche nicht lokalisieren, es ist daher wichtig, dass man sie von vorne anspricht, damit sie die dazugehörigen Lippenbewegungen sehen kann. Höhen und Tiefen der Laute müssen manuell an den Implantaten eingestellt werden. Eigentlich wöchentlich. Das Hören muss sie trainieren, deshalb hört sie mit ihrem älteren Implantat auch wesentlich besser als mit dem neueren. Dort fehlt ihr die Übung. "Das Implantat ist nicht vergleichbar mit einer Brille, die man einfach aufsetzt und dann wieder sehen kann", erklärt sie.

Erzieherin Ingrid Huber-Zapf sitzt wegen einer Nervenkrankheit im Rollstuhl, sie kann zwar den Kindern nicht hinterherrennen - aber mit ihnen buchstäblich auf Augenhöhe kommunizieren. (Foto: Christian Endt)

Happe steht in einem Gruppenraum der Poinger Kita und holt Bilder aus einer Schublade. Eines davon zeigt das Innere eines Ohres, ein anderes den Aufbau eines Implantates. Anhand der Schaubilder erklärt sie den Kindern ihre Einschränkung. Das ist der 27-Jährigen wichtig. Das funktioniere sehr gut, sagt sie.

Mit Verschiedenheit aufwachsen sei der Schlüssel. Da ist sich Boge-Diecker sicher. Nur dann wird das Anderssein zur Normalität. Für Kinder sei ausschlaggebend, wie viel Zuneigung sie bekommen, etwa durch eine Wärme in der Stimme. "Es ist für sie überhaupt nicht wichtig, ob jemand im Rollstuhl sitzt oder nicht so gut hört", sagt Boge-Diecker weiter. "Kinder sind flexibel."

Und wenn Kinder von klein auf an Menschen wie Huber-Zapf und Happe gewohnt sind, dann haben sie später einmal bei den eigenen Kindern vielleicht keine Angst mehr, dass es von einer Erzieherin mit einer Gehbehinderung erdrückt werden könnte. Denn diese Vorstellung ist genauso aberwitzig, wie sie klingt.

© SZ vom 06.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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