Höchst kreative Version von "Jim Knopf":Wenn die Bühne die Welt auf den Kopf stellt

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Beim Theaterprojekt des Grafinger Familienzentrums machen neun kleine und große Darsteller unter der Leitung von Marina Lahann ganz besondere Erfahrungen

Von Anja Blum

Okay, wenn's sein muss Mama, dann spiele ich halt einen Baum...". Auch wenn zu Beginn vielleicht nicht jeder nur so vor Enthusiasmus sprüht: Bereits nach dem ersten Treffen hat Marina Lahann alle, aber auch wirklich alle in der Gruppe für sich und ihr Theaterprojekt gewonnen, der Funke der Begeisterung springt völlig mühelos über. Dabei war zuvor tatsächlich nicht abzusehen, was die Teilnehmer erwarten würde - und ob das überhaupt funktionieren kann: in lediglich fünf Tagen ein Stück einzustudieren, mit einem neuen Team aus Grundschülern und ein paar Erwachsenen, und obendrein selbst für sämtliche Kulissen, Requisiten und Kostüme zu sorgen. Jetzt steht fest: Es kann funktionieren - und wie!

Zu verdanken ist dies vor allem der Grafingerin Marina Lahann, die sich aus ganzem Herzen der Arbeit mit Kindern verschrieben hat. Sie ist der Kopf des Projektes, das unter dem Dach des Grafinger Familienzentrums stattfindet. Lahann, 1969 in Hamburg geboren, hat in Berlin an der Hochschule für Schauspielkunst studiert und arbeitet freischaffend als Theaterpädagogin, Klinikclown, Erzählerin und Puppenspielerin. An der Musikschule Ebersberg leitet sie eine Theatergruppe für Kinder, auch an Grundschulen bietet sie entsprechende Projekte an.

Mit höchster Professionalität und überbordender Kreativität führt Marina Lahann also dieses neue Grafinger Team - sieben Kinder und zwei Erwachsene - durch fünf aufregende Theatertage, bis hin zu einer krönenden Aufführung. Auf dem Spielplan steht die berühmte Geschichte um den kleinen "Jim Knopf" von Michael Ende, in einer reduzierten Fassung freilich, als Probenort und Bühne dient die Boulderhalle des Vereins "Leben bewegt" in Grafing.

Die Aufführung des Stücks ist dabei zwar irgendwie der Höhepunkt - dennoch gilt hier mehr denn je: Der Weg ist das Ziel. Was diese bunt zusammengewürfelten, kleineren und größeren Menschen - das Projekt stand allen Familien in und um Grafing offen - hier erleben, sprengt die Grenzen eines Ferienalltags deutlich. In diesen Tagen begeben sich Geschwister, Oma und Enkelin, Mutter und Sohn zusammen auf eine spannende, kreative Reise, in der sie sich einmal ganz anders kennenlernen dürfen: Die Mama outet sich als hysterische chinesische Heulsuse, die Großmutter gibt den fiesen Hausdrachen, die Kinder verwandeln sich im Handumdrehen in Scheinriese, Prinzessin oder Oberbonze. Alle zusammen sind sie die "Wilde 13", eine waschechte Piratenbande mit großem Schiff und einer "fetten Bottel Rum".

Mit jeder Menge Fantasie verwandeln Marina Lahann (Mitte) und ihre Schauspielschüler die Grafinger Boulderhalle in eine Theaterbühne. (Foto: Christian Endt)

Obendrein stellt die Bühne ganz sanft sämtliche Hierarchien auf den Kopf: Die kleine Schwester spielt auf einmal die wichtigste Rolle, und die Mama hat plötzlich gar nichts mehr zu melden, denn alle ziehen an einem Strang und hören auf die Chefin, Marina Lahann. Wobei, immer funktioniert das freilich nicht so ganz, die Matten und Kletterwände in der Boulderhalle sind schließlich verdammt verführerisch. Da tobt der ein oder andere schon manchmal lieber herum, als konzentriert eine Theaterszene zu proben.

Lahann aber beweist eine Engelsgeduld: Immer wieder ermahnt sie ruhig die Wilden, und wird auch nimmer müde, mit den Darstellern an ihren Dialogen zu arbeiten. Dabei sind hier ziemlich viele Wiederholungen nötig, schon alleine wegen der beiden Hauptdarstellerinnen - die jüngsten der Truppe. Julia alias Jim Knopf geht in die zweite Klasse, Ella, der Lokomotivführer Lukas, gerade einmal in die erste. Mit selbst lesen und üben ist es da so eine Sache... Doch die Präsenz der beiden Mädchen hat die Regisseurin sofort überzeugt, schon nach den ersten zwei Stunden steht die gesamte Besetzungsliste dieses neuen Ensembles fest. Auch daran zeigt sich die Professionalität der Theaterpädagogin: Wer die Aufführung erlebt hat, weiß, dass sie von Anfang an richtig lag mit der Verteilung der Rollen.

Außerdem geht sie mit dem Text um wie mit einem Teig, der beliebig formbar ist: Es reicht nicht für fünf Bonzen? Egal, dann spielen wir nur mit einem, dem großen Theo aus der fünften Klasse. Mehrere wollen ein Drache sein? Dann gibt es bei uns einfach die Gebrüder Nepomuk: Niklas und Konrad, im echten Leben beste Freunde. Lena darf in einer Doppelrolle als Prinzessin Lisi und als Frau Waas glänzen, und Jakob sich das Spektakel als Scheinriese Turtur von ganz oben besehen.

Oma Inge führt als Frau Mahlzahn ihre Drachenschule mit strengem Regiment. (Foto: Christian Endt)

Voller Inbrunst schlüpft Lahann anfangs selbst in sämtliche Rollen, um ihren Eleven deutlich zu machen, wohin die Reise auf der Bühne gehen soll. Jim Knopf agiert zunächst recht ängstlich, wächst aber dann über sich hinaus. Lukas ist stets der coole Fels in der Brandung, der Oberbonze eine echte Autoritätsperson, die chinesische Kaiserin in höchstem Maße verzweifelt und Frau Mahlzahn, alias Oma Inge, fragt einmal ganz besorgt: "Mache ich euch Angst? Dann schalte ich einen Gang zurück." Zur Antwort gibt es von den Kindern der Drachenschule nur heftiges Kopfschütteln und breites Grinsen, was den Oma-Drachen freilich freut.

Wer gerade nicht an der Szene, die geprobt wird, beteiligt ist, wird von Lahann geschickt anderweitig eingespannt: Bei jedem Treffen hat sie Mal- und Bastelarbeiten vorbereitet, die im vorderen Teil der Halle bereitliegen. Und wenn im Laufe der Zeit irgendeine Idee aufkommt, so greift die Regisseurin auf ihren offenbar unerschöpflichen Fundus zurück und bringt gleich am nächsten Tag mit, was nötig ist: Zaubertape für alle möglichen und unmöglichen Fälle, Stoffe, Hüte, Kartonagen, Farben oder Instrumente wie ein kleines Clowns-Akkordeon. Im Laufe der Woche entstehen sogar richtig große Requisiten: eine schwarze Lokomotive namens Emma, mit der man herumfahren kann, und ein Piratenschiff aus Pappe, mit einer großen Dreizehn und mehreren Totenköpfen verziert. Überhaupt braucht jeder Schauspieler einen echten Piratenhut, zwei Kronen sind zu entwerfen, außerdem werden zarte, bunte Fächer gebastelt, für einen anmutigen chinesischen Sonnentanz.

Neben dem Umgang mit Text und Spiel ist es nämlich Lahanns Stärke, wunderbar poetische Bilder für die Bühne zu entwickeln, regelrechte Kunstwerke aus diesem ungewöhnlichen Raum, den Kostümen und Requisiten: Die wilde Piratenbande steht an der Fensterfront vor dem blauen Grafinger Himmel, das Tal der Dämmerung führt Emma durch eine finstere Kletterhöhle, von deren Wand zu Donnergeräusch menschliche Felsen purzeln, eine Leiter und ein meterlanges Tuch verhelfen dem scheuen Scheinriesen zu übernatürlicher Größe. Viel Fantasie braucht es wahrlich nicht, um von solchen Szenen beeindruckt zu sein.

Beim Theaterprojekt für Familien in Grafing geht es diesmal nicht um Jim Knopf und Lukas, den Lokomotivführer, sondern um Ronja Räubertochter. (Foto: Christian Endt)

Hinzu kommt, dass Lahann großes Gespür besitzt für Geräusche und Musik - und sie so weit wie möglich live ins Spiel bringt. So singen die Piraten ein kraftvoll-ruppiges Lied über die sieben Meere, ein ehrwürdiger Gong kündigt den Oberbonzen an, die Ocean Drum begleitet Emmas Fahrt auf dem Meer und am Ende singen alle zusammen mit dem Publikum den Hit der Augsburger Puppenkiste: "Eine Insel mit zwei Bergen...", von Querflöte, großer Trommel und Quetsche begleitet.

Die Zuschauer zeigen sich begeistert von der Gestaltungskraft ihrer Freunde und Verwandten auf der Bühne, füllen die Grafinger Boulderhalle mit dem Applaus ehrlicher Anerkennung und Freude. Nur einen lebendigen Baum, den konnte das Publikum bei dieser Aufführung beim besten Willen nicht entdecken. Der Darsteller hatte nämlich viel Wichtigeres zu tun.

© SZ vom 15.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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