Historische Fundgrube:Und Sepp Maiers Frau lächelt

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Idylle daheim im 60er Jahre-Look. Torwartlegende Sepp Maier lässt sich mit Jogginghosen am Küchentisch fotografieren. (Foto: OH)

Allerlei Skurriles aus der Geschichte der Region ist auf dem Internetportal "Bavarikon" zu finden

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Drehen wir die Zeit um 90 Jahre zurück: Alle bayerischen Gemeinden bekommen einen Fragebogen zugeschickt; der Münchner Verein für Volkskunst und Volkskunde will festhalten, wie es sich Anfang des 20. Jahrhunderts so lebt in Weißblau. Auch der Pfarrer Josef Tittler aus Grafing erhält das Papier, lässt aber den Schüler Martin Oswald antworten. Dieser nämlich, so Tittler, sei "durch Geburt und Geschäft der Eltern mit Volkskunde mehr betraut". Und so beschreibt Martin in eng aneinander gereihten, regelmäßigen Lettern, was er Tag für Tag als Normalität erlebt: "Der Bauer ißt eigens an einem herabklappbaren Tischchen; die Bäurin meist in der Küche." Am zweiten Februar, Mariä Lichtmess, schenkt die Bäuerin jeder Frau und jedem Mädchen auf dem Hof einen Wachsstock - eine sehr dünne Kerze, deren Wachskörper man beinahe wie Wolle aufrollen konnte. Ebenso schenkt der Knecht der Magd einen Wachsstock, die für das Aufbetten zuständig ist. Und wenn jemand stirbt, schreibt Martin, werden Bienenstöcke verrückt.

Wer will, kann Martins Aufzeichnungen abends vor dem Einschlafen lesen oder morgens auf dem Weg zur Arbeit. Keine aufwendige Recherche ist dafür nötig und auch nicht das Anschaffen teurer Geschichtsbücher. Möglich macht es das kostenlose Internetportal "Bavarikon", das vom damaligen Kultusstaatssekretär Bernd Sibler als "Schatzkammer der bayerischen Geschichte und Kultur" gefeiert wird und auch als App erhältlich ist.

Mehr als 230 000 Objekte von historischer Relevanz wie Fotos, Zeitungsartikel, Dokumente sind dort eindigitalisiert und können nach Belieben herangezoomt und verdreht werden - eine Art 3-D-Erlebnis der geschichtlichen Art. Zusätzlich sind die Objektbeschreibungen noch mit Wissenswertem und weiteren Fakten unterfüttert. So wird zum Beispiel zu Martins Bericht bemerkt, dass im Jahr 1900 in Grafing 1059 Menschen wohnen, von denen sechs evangelischen Glaubens sind. Alle anderen Grafinger sind katholisch.

"Erfreulich, dass es so ein schönes Angebot gibt", sagt Bernhard Schäfer, Leiter des Grafinger Stadtarchivs. Auch er nutzt für historische Recherchen bisweilen die Plattform: "Da kann man schon einiges rausholen." Allerhand Skurriles und Denkwürdiges wartet für Ebersberger Regionalforscher und Neu-Interessierte auf den Seiten des Bavarikons. Eine Fotografie aus dem Jahr 1954 zum Beispiel zeigt ein Mädchen, das andächtig vor einer kleinen Marienstatue steht. Eine Szene aus dem Ebersberger "Frauentragen" ist hier eingefangen: ein Adventsbrauch, bei dem eine Marienstatue zwischen erstem Adventssonntag und 24. Dezember von Familie zu Familie gebracht wird. Heute nur noch in wenigen katholischen Gemeinden praktiziert, soll dieser Brauch an die Herbergssuche von Maria und Josef erinnern.

Auch Achskoppel und Achsnägel aus dem 13. Jahrhundert sind digital festgehalten; sie wurden in einem Grab in Poing gefunden und gehören wohl ursprünglich zu einer Art "Sänfte auf Rädern", die nach damaligem Brauch mit dem Verstorbenen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ein Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert wiederum zeigt das Schloss Zinneberg bei Glonn in voller Blüte.

Aber auch jüngere Fotos von Reportagen über Prominente aus dem Landkreis finden sich auf der Webseite wieder. Udo Jürgens und die Opernsängerin Erika Köth beispielsweise lassen sich in den 60ern in ihren Häusern in Vaterstetten ablichten. Torwartlegende Sepp Maier wird 1968 in seiner Anzinger Wohnung porträtiert. Auf einem der Fotos sitzt Maier am hübsch gedeckten Kaffeetisch - in Jogginghosen. Seine erste Frau Agnes, die Haare nach damaliger Mode hochtoupiert und mit Haarband zusammengehalten, steht neben ihm und zündet mit verhaltenem Lächeln eine Kerze an. Die Einrichtung der Wohnung ist schlicht und ein Zeugnis der 60er Jahre - und so werden auch diese Bilder zu Zeitzeugen einer vergangenen Epoche.

Manchmal bleiben die Notizen und zusätzlichen Beschreibungen zu den Objekten auf "Bavarikon" leider etwas kryptisch, und man muss schon ein Fachmann sein, um sie in Gänze verstehen und einordnen zu können. So wird beispielsweise die Fotoserie über die "Ausweichstelle Weidach/Piusheim" aus dem Jahr 1949 nicht genauer erklärt. "Im Zweiten Weltkrieg wurden in den 1940ern immer mehr Luftangriffe über München geflogen", erläutert Historiker Bernhard Schäfer, "viele Münchner Institutionen wie Museen, Bibliotheken, aber auch Behörden haben ihre Bestände aufs Land verlagert." Und so kam es, dass die Bayerische Staatsbibliothek ihre Bücher und Dokumente einige Jahre nahe Jakobsbaiern unterbrachte.

Unterhaltsam jedenfalls ist so ein Besuch auf www.bavarikon.de allemal. Wer tiefer in die Materie und Geschichte Bayerns oder der Region Ebersberg eintauchen will, kann dies aber auch bei einem sonntäglichen Museumsbesuch tun. Denn, wie Bernhard Schäfer es formuliert: "Trotz der vielfältigen Angebote ist noch lange nicht alles über das Internet greifbar."

© SZ vom 25.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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