Ein Essay:Von Göttern und Gaunern

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Diese kleine Bronzestatue des Gottes des Weines wurde einst im Wald bei Anzing gefunden. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Antike ist in ihrer Vieldeutigkeit über die Jahrhunderte eine große Inspiration der europäischen Musik

Von Claus Regnault

Claus Regnault, Jazz- und Klassikexperte aus Grafing, erfreut die Leserschaft der Süddeutschen Zeitung Ebersberg seit Jahrzehnten mit profunden Kritiken. Darüber hinaus erweitert der 90-jährige ständig sein Wissen, bildet sich hörend wie lesend fort, und bringt seine Gedanken auch zu Papier. Hier sein Essay über das Zeitalter der Antike als Quelle und Inspiration der europäischen Musik.

Das Verhältnis des Menschen zu den Göttern und zu Gott ist die Vermenschlichung. Schon das Personal des Olymp ist ein Abbild menschlicher Eigenschaften, positiver wie negativer, ist eine Selbstentschuldigung des Menschen durch Übertragung eigener Befindlichkeiten auf die Figuren seiner Anbetung. Vielleicht ist dies auch die Ursache für die fortwährende Wirkung der Antike auf die Kunst, die Inspiration auch der Musik durch die Jahrhunderte.

Ihren Höhepunkt erreicht die Vermenschlichung in der Gestalt Jesu Christi: Er ist der Mensch gewordene Gott. Mit ihm findet auch die Antike ihr zeitliches Ende. Die Musik ist daher in den ersten Jahrhunderten nach seinem Erscheinen geprägt vom Christentum. Vom ambrosianischen Gesang über den gregorianischen Choral bis zur mittelalterlichen Polyfonie wird es das beherrschende Thema musikalischer Produktivität, die altgriechischen Götter finden kaum noch Töne.

Doch dann geschieht etwas Umstürzendes: Die Renaissance entdeckt die Antike wieder, und von da an bis in den Barock tummelt sich in der Musik das ganze antike Personal an Göttern, Halbgöttern und Helden, aber auch Menschen wie Orpheus und Eurydike, Castor und Pollux, Dido und Äneas, und begehrt Einlass in Oper und Kantate. Den Anstoß gibt der Cremonenser Claudio Monteverdi mit einer neuen, das Mittelalter verlassenden Musiksprache, in seinen Opern "Orfeo" und "Krönung der Poppäa", in welcher er eine der grausamsten Frauen der Geschichte - in dritter Ehe mit einem der grausamsten Männer der Geschichte, Nero, verheiratet - einen Hymnus auf die Liebe anstimmen lässt. Diese Musik bleibt ein unlösbares Rätsel: Was bewog Monteverdi, der sich in San Marco angesichts der in Venedig herrschenden Pest zum Priester weihen ließ, ein Verbrecherpaar in derart himmlischen Klängen zu erlösen? (Allerdings hatte der Komponist bereits zuvor mit seiner großartigen "Marienvesper" Abbitte geleistet.)

Im Barock feiert die Antike in ihren göttlichen Gestalten musikalisch vornehmlich die Landesfürsten (Lully, Rameau, Rebel, Hasse). Im 19. Jahrhundert wird sie mehr oder minder verdrängt durch das brave Gretchen und den Besser- und Alleswisser Faust, der freilich auch den Reizen der schönen Helena nicht abgeneigt ist, sowie durch die Germanenwelt Richard Wagners. Die Antike wird Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in Philologie (Homer-Übersetzung von Voss, Entzifferung der Keilschrift) und der Philosophie von Schlegel bis Nietzsche. Vehement musikalisch gegenwärtig ist sie nun einzig in der Oper Les Troyens ("Die Trojaner") von Hector Berlioz.

Dafür erobert die Antike im 20. Jahrhundert verlorenes Terrain umso machtvoller zurück, aufgrund zweier Weltkriege jedoch eher dunkel eingefärbt. Hierzu einige Beispiele: Strawinski "Sacre du Printemps", "Apollo musagètes" und das Oratorium "Ödipus Rex"; Arthur Honegger "Le roi David", Richard Strauß die Opern "Salome" und "Electra", Darius Milhaud "Les Coéphores", Schönberg "Moses und Aron", Wolfgang Rihm "Dionysos", Hans Werner Henze "Die Bassariden" und Jörg Widmann "Babylon".

Die "Bassariden" behandeln die grausame Geschichte der Ermordung des Pentheus, König von Theben, durch die Bacchen, die weibliche Gefolgschaft des Gottes Dionysos. Dieser, Halbbruder des Pentheus und nach der Herrschaft über Theben gierend, hatte seinem Bruder den hinterlistigen Rat gegeben, er könne sich nur in Frauenkleidern zu den Orgien auf dem Berg Kitheron begeben. Pentheus jedoch wird enttarnt und bestialisch zerfleischt. Dionysos, der als jüngster Gott in den Olymp Aufgenommene, ist also eine durchaus zwielichtige Gestalt. Einerseits ist er Gott der Lebensfreude und des Weines, andererseits ein Falschspieler par excellence. Schlau und hinterlistig strebt er nach der Herrschaft über Theben, ja, in der Figur des Aron, dem alttestamentarischen Halbbruder des Moses, ist er der Veranstalter der Orgie um das Goldene Kalb und schleicht sich so in das Alte Testament ein.

Schließlich wird das griechische Altertum Inspiration für Carl Orff. Von den Hölderlin-Übertragungen der "Antigone" über "Ödipus der Tyrann", beide nach Sophokles, bis zum "Prometheus" des Aischylos greift er in letzterem Werk zurück auf die Sprache des Originals, damit die Präsenz der Antike in der europäischen Musik einerseits vollendend, andererseits die Musik dadurch reduzierend, dass sie sich fast ausschließlich dem Rhythmus der altgriechischen Sprache unterwirft. Sogar schon früher erscheint bei Orff das Altgriechische, am Ende des dritten Teils des "Carmina"-Zyklus, "Trionfi di Aphrodite", den Schrecken beschreibend, den die Erscheinung der Göttin hervorruft. Es ist der Schrecken über die Gewahrwerdung der Liebe. Auch hierin zeigt sich das Vieldeutige antiken Göttertums.

So leben die antiken Götter, Helden und Gauner in der europäischen Musik weiter. Wir können nur froh darüber sein, dass in der Gestalt des Jesus Christus und in seinem Gebot der Liebe die Hoffnung auf Erlösung erschienen ist, Trost für uns, die wir in der Grenze der verrinnenden Zeit gefangen sind.

© SZ vom 03.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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