Bühne mit Biss:Bokodil im Gartenteich

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Das Wasserburger Theater spielt "Besuch aus Tralien", eine wundervolle Parabel über Identität, Toleranz und die Herausforderungen der Integration - auch für Kinder und Jugendliche

Von Anja Blum

Dave ist anders. Ganz anders. Sehr wortkarg. Immer schläfrig. Und am liebsten liegt er im Gartenteich. Sein Hühnchen jedoch verspeist er derart wild, dass die Reste danach überall an der Wand kleben. Auch von Zahnhygiene hat er offenbar noch nie etwas gehört. Daves ganzes neues Umfeld ist deshalb zunehmend verstört - doch die so offensichtliche wie absurde Wahrheit spricht zunächst nur ein Baby aus: "Bokodil!".

Eine wunderbare Parabel über das Anderssein, über Identität, Toleranz und die Herausforderungen der Integration ist nun am Theater Wasserburg zu sehen: "Besuch aus Tralien", ein Stück für Kinder und Jugendliche, das auch die Herzen und Hirne von Erwachsenen zu erobern vermag, weil es so klug wie komisch ist. Kitas und Schulen können Extravorstellungen buchen. Die Fabel stammt aus der Feder des vielfach ausgezeichneten Düsseldorfer Autors Martin Baltscheit, ursprünglich geschrieben hat er sie als Kinderbuch. Darin enthüllen zunächst nur die Bilder Daves wahre Identität - in Wasserburg trägt Darsteller Oliver Mirwaldt von Beginn an eine Maske auf dem Kopf. Statt Gesicht und Haaren sieht man nur eine grüne lange Schnauze mit kleinen Augen und ein paar spitzen weißen Zähnen. Das heißt, der Zuschauer weiß mehr als die Figuren - der berühmte Kasperleeffekt.

Doch worum geht es überhaupt? Piet, ein Jugendlicher aus Deutschland, ist zum Schüleraustausch in Australien, im Gegenzug besucht Dave Piets Familie. Das Stück erzählt, wie die Eltern verzweifelt versuchen, mit dem seltsamen Gast irgendwie umzugehen, und dabei viel über sich selbst lernen. Auch die Menschen aus Nachbarschaft und Schule reagieren stark auf Dave: Für die einen ist er ein Opfer, für die anderen ein Ungeheuer. Dem Zuschauer hingegen dient die Figur vor allem als Projektionsfläche. Denn Dave spricht nicht und seine Mimik bleibt unter der Maske verborgen. Er sagt nur ein Wort, "Koi!" (Die gleichnamigen japanischen Fische schwimmen im Gartenteich - "not for eating, only for beauty!") Ansonsten hört man ihn nur fauchen oder mal ordentlich rülpsen. Daves verblüffend reptilienhafter Gestus vermittelt vor allem zwei Eindrücke: dass das Krokodil genervt ist von allem - und ziemlich unglücklich.

Bei seinen Gasteltern in Deutschland (Petra Wintersteller und Benedikt Zimmermann) macht das Krokodil (Oliver Mirwaldt) ganz neue Erfahrungen, wie zum Beispiel Autofahren. (Foto: Christian Flamm/oh)

Piets Eltern befinden sich von Anfang an in höchstem Erregungszustand. Und das hat mitnichten nur mit Daves Erscheinen zu tun. Eines ihrer Rituale geht so: "(Scharfes Einatmen) Wo ist das Baby? (atemlose Schrecksekunde) Auf Deinem Arm! (hysterisches Lachen)." Wie bis zum Anschlag aufgezogene Spielzeugfiguren hetzen sie durch die Handlung, sie (Petra Wintersteller) hektisch stöckelnd, er (Benedikt Zimmermann) roboterhaft ausschreitend. Mutter und Vater sind zwei der einzigen drei Rollen ohne Larve, doch ihre Mimik wirkt oft maskenhaft. Der Vater grinst dann von einem Ohr zum anderen, sie reißt in Panik die Augen auf. Alles an den beiden scheint zwanghaft und völlig überzogen. Irgendwo zwischen Helikopter- und Gutmenschentum sind diese Eltern angesiedelt, der Grad ihrer Verblendung jedenfalls ist hoch.

Als Zuschauer weiß man nicht: Sind sie nervig? Lustig? Sollten sie einem leid tun? Wo genau halten sie uns den Spiegel vor? "Wir werden ihn verstecken müssen", so lautet die spontane Reaktion der Mutter bei Daves Ankunft. Doch was er ist, sprechen die Eltern nicht aus. Wollen sie sein Wesen nicht erkennen? Oder können sie es gar nicht? Bis zum Schluss versuchen sie, einen Zugang zu dem Krokodilmenschen zu finden. Heißen ihn herzlich willkommen in "Watercastle", beziehen ihn mit spitzen Lippen ein ins familiäre Küsschen, Küsschen, putzen ihm die vielen Zähne im Maul. Doch dafür soll Dave seinen Gasteltern gefälligst auch entgegenkommen: "Man muss sich schon ein bisschen Mühe geben!" Schließlich versuchen sie ja auch, dem Besucher aus dem fernen Tralien die Gepflogenheiten ihrer Kultur nahezubringen. "Aber was macht uns Deutsche überhaupt aus? Bier, Brezn, Bratwurst und Fußball? Ordnung und Sauberkeit?"

Auch zur Schule gehen steht auf dem Programm für das Krokodil. (Foto: Christian Flamm/oh)

Einen der schönsten Sätze des Stücks, ein Juwel der Vieldeutigkeit, legt der Autor dem Rektor in den Mund: "Sind sie alle gleich, so ist die Welt ein Himmelreich!" Dicht gefolgt von Frau S., ebenfalls Pädagogin, die meint: "Auch Seelen haben Narben. Das Kind hat eine Zukunft verdient." Oder der Psychologe, der den Eltern rät, zu werden wie Dave und die Angst vor dem Fremden zu verlieren, "denn nur wer verliert, gewinnt an Erfahrung".

Am Ende kommt es tatsächlich zu einer Annäherung, sie gipfelt in einem Ausruf der Mutter: "Er ist ein gutes Krokodil!" Trotzdem muss Dave frühzeitig das Land verlassen - er kann für seinen vielen spitzen Zähne nämlich leider keinen Waffenschein vorweisen. Trotzdem wird der Zuschauer mit dem Gefühl entlassen, das es gut ausgegangen ist: Zum Abschied gibt es Küsschen und ein ganzes Hühnchen in den Koffer.

Den Kindern und Jugendlichen im Publikum kommt die Schlichtheit der temporeichen und flexiblen Inszenierung von Frank Piotraschke, dem Leiter der Nachwuchssparte am Wasserburger Theater, sehr entgegen: Minimalismus im Äußeren legt den Blick frei für die Vorgänge im Inneren und schafft obendrein Raum für Fantasie. Lediglich fünf weiße Paravents zieren die schwarze Bühne, einer wird im Handumdrehen zum Auto, der andere zur Schulbank. An der Seite steht ein Planschbecken, Daves Lieblingsplatz. Zehn Figuren kommen vor, dargestellt von einem hochprofessionellen Trio: Petra Wintersteller, Benedikt Zimmermann und Oliver Mirwaldt. Ihr Können zeigt sich schon allein in der Körpersprache: Sie ist stets derart markant, dass jedes Kind die Figuren sofort wieder zuordnen kann.

Und Piet? Der hat vier Wochen unter Krokodilen gelebt, mit ihnen am Strand geschlafen - und "gelernt, dass wir alle winzige Teile eines einzigen großen Lebewesens sind". Vielleicht, vielleicht kann er das ja auch seinen Eltern beibringen.

"Besuch aus Tralien" von Martin Baltscheit am Theater Wasserburg, ein Stück für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die nächsten Spieltermine sind sonntags, 12./19. und 26. Mai, jeweils um 11 Uhr. Der Eintritt kostet zwölf Euro für Erwachsene und acht für Kinder. Extravorstellungen für Kindergärten und Schulen kann man buchen per Mail an piotraschke@theaterwasserburg.de. Dauer circa eine Stunde, geeignet ab vier Jahren. Info und Karten unter www.theaterwasserburg.de

© SZ vom 09.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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