Barrierefreiheit in Grafing:"Alle sind sicherer unterwegs"

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Architekt Uwe Gutjahr berät Grafing bei der Barrierefreiheit. Der Münchner sieht nicht nur für Behinderte Vorteile

Interview von Viktoria Spinrad

Seit den 1980er Jahren bietet die Bayerische Architektenkammer kostenfreie und freiwillige Beratungen für Städte und Gemeinden an, die ihre Ortschaften barrierefrei gestalten wollen. Uwe Gutjahr aus München ist einer der Berater, der die Stadt Grafing über Möglichkeiten und Notwendigkeiten informiert hat. Im Interview erklärt er, was Barrierefreiheit ausmacht und warum auch Bürger ohne Behinderungen davon profitieren. Der Grafinger Kultur-, Schul-, Sport- und Sozialausschuss diskutiert in seiner Sitzung am Dienstag, 23. Januar, 19.30 Uhr über Gutjahrs Vorschläge.

SZ: Herr Gutjahr, wie barrierefrei ist Grafing?

Uwe Gutjahr: Beim Bahnhof ist die Stadt recht weit. Abgesehen davon zeigen sich die typischen Probleme des Münchner Umlands: Viel Verkehr, zu enge Gehwege und Querungen, die zwar hier und da für Rollstuhlfahrer gut funktionieren, bei denen für sehbehinderte Menschen aber zusätzliche Markierungen und Kanten fehlen.

Die Ansätze für Menschen mit Gehbehinderung, Hörschädigung und Sehbehinderung ergänzen sich also nicht zwingend?

Genau. Die abgeflachte Straßenüberquerung vom Grafinger Marktplatz zur Bäckerei ist zwar für Rollstuhlfahrer geeignet - für Blinde aber gefährlich. Für Sehbehinderte bräuchte es mehr Kontraste wie beispielsweise durch einen Zebrastreifen. Gerade an stark frequentieren Stellen sollte überlegt werden, wie der Verkehr reduziert werden kann. Oder nehmen wir den Marktplatz selbst. Gehörlose verlassen sich naturgemäß auf das Sehen, da ist ein unübersichtlicher, stark umkämpfter Parkplatz schwierig. Besser wäre es etwa, auf den hundert Meter entfernten Parkplatz zu verweisen. Allerdings müsste die Anbindung an die dortige Tiefgarage dann attraktiver gestaltet werden. Barrierefreiheit würde also eine Neuordnung des Platzes bedeuten, der im Moment noch sehr auf den Autoverkehr ausgelegt ist.

Eine barrierefreie Stadt ist also auch eine verkehrsberuhigte Stadt?

Und auch eine Fußgänger- und Radfahrer-freundliche Stadt. Neue Trassen sollten vorrangig Wegenetze für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer sein. Mit weniger Autos verlagert sich zudem vieles auf den öffentlichen Nahverkehr. Deswegen sind auch die Bushaltestellen wichtig. Hier bräuchte es in Grafing mehr barrierefreie Einstiege, gut sichtbare Fahrpläne zum Vorlesen und Unterstellmöglichkeiten. Wie soll ein Mensch im Rollstuhl schließlich einen Regenschirm halten?

Wie sähe denn ein langfristiger Plan zur Neugestaltung aus?

Als Berater analysieren wir die Topografie der jeweiligen Kommune. In einem ersten Schritt sollte der Alltag der Menschen mit Bordsteinabsenkungen und Querungshilfen entlang der Hauptverkehrswege erleichtert werden. In Grafing wäre das zum Beispiel die Strecke vom Bahnhof zum Marktplatz, damit gehbehinderte Menschen auch zum Arzt oder in die Kirche gehen können. Die weiteren Schritte wären dann: Bedürfnisse von Menschen mit besonderen Einschränkungen wie Blindheit zu berücksichtigen. Und eine flächendeckende Barrierefreiheit schaffen.

Eine Verkehrsberuhigung für den Fußgänger-gerechten Stadtumbau bedeutet doch sicherlich auch Widerstand aus Teilen der Bevölkerung.

Das kommt auf die Form der Kommunikation und der Beteiligung der Bürger an. Bei Veränderungen im Stadtbild wird es immer wichtiger, die Bevölkerung mit einzubinden - und auch, dass sich die Gemeinden untereinander austauschen. In Starnberg zum Beispiel, eine der Modellkommunen für Barrierefreiheit, können Gewerbetreibende in der Stadtwerkstätte ihre Interessen einbringen. Auch bei dem Umbau der Sendlinger Straße in München gab es zunächst Zweifel, deswegen sind Testphasen sehr wichtig.

Wie ist die wirtschaftliche Prognose für solche Kommunen?

Wir stellen fest, dass die Umstellung auf Barrierefreiheit gerade bei Einkaufszentren wie etwa dem in München-Pasing sehr erfolgreich verläuft. Auch die Läden in der Sendlinger Straße in der Münchner Innenstadt hatten keine finanziellen Einbußen, wie zunächst befürchtet. Am Ende entsteht für alle ein Mehrwert, für Menschen mit Kinderwagen bis hin zum Skateboardfahrer, alle sind sicherer unterwegs. Wir merken anhand der Nachfrage, dass gerade ein Umdenken stattfindet. Deshalb ist es uns wichtig, den Mehrwert der Barrierefreiheit für die Kommunen aufzuzeigen.

Was ist der größte Mehrwert?

Ganz klar die Zurückgewinnung und gefahrlose Nutzung des öffentlichen Raums durch weniger Verkehr. Mit mehr Barrierefreiheit schaffen sich Fußgänger, Radler und alle, die nicht motorisiert sind, wieder Freiräume - und Menschen mit Behinderungen sind ganz selbstverständlich dabei.

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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