Die Isartürkin:Blond wie Atatürk

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Neue Kolumne: In der Beziehung zwischen Deutschen und Türken läuft etwas gewaltig schief. Es scheint nur noch "wir" und "die anderen" zu geben. SZ-Redakteurin Deniz Aykanat trägt beide Seiten in sich. Meistens verstehen sie sich gut

Von Deniz Aykanat

Das Einzige, was ich von meinen türkischen Großeltern besitze, ist eine goldene Münze mit dem Konterfei Atatürks darauf. Keine Fotos, kein antikes Besteck, keine alten Tagebücher oder Möbel - nur dieses Medaillon. Als ich noch klein war, trug ich es manchmal in der Schule an einer goldenen Kette. Es gefiel mir, wenn Lehrer und Mitschüler mich danach fragten, wer dieser goldene Typ sei. Cäsar und Bismarck und Hitler, die kannten wir in der Klasse schon. Aber Atatürk - den kannte am Münchner Gymnasium nur ich. Stolz war ich auf diese Münze. Und auf mein Wissen. Und auch ein bisschen stolz auf Atatürk.

In den Sommerferien, wenn ich mit der Familie in der Türkei war, merkte ich schnell, dass ich nicht die Einzige war, die stolz auf Atatürk war. Dort hängt der Gründer der modernen Türkei in jedem Zimmer. Mindestens einmal. Mustafa Kemal, der später vom Parlament den Nachnamen Atatürk verliehen bekam, ist der Begründer der Republik Türkei. Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches baute er ein Land auf, das er radikal nach westlichen Maßstäben ausrichtete. Das fing bei der Abschaffung von Sultanat und Kalifat an und hörte bei der Sprach- und Schriftreform noch lange nicht auf. Und das alles quasi im Alleingang!

Andere Bronze-Köpfe sah ich nicht, zumindest nicht beim Spaziergang an der Promenade von Marmaris, wo wir unsere Sommerurlaube verbrachten. Atatürk als Büste, Atatürk auf einem Pferd, dann Atatürk als Wandrelief, gefolgt von Atatürk als Schlüsselanhänger. Doch je älter ich wurde, desto weniger stolz war ich auf Atatürk. Und nun scheinen sie ihn auch in der Türkei nicht mehr so zu verehren. Für Präsident Erdoğan und seine Anhänger ist Atatürk nicht mehr der Reformer und Befreiungskämpfer, sondern derjenige, der ihnen das osmanische Großreich versaut hat. Was mich wiederum - aus Trotz - wieder stolz auf Atatürk macht. Es ist kompliziert.

Das besagte Atatürk-Medaillon gehörte einmal meiner Großmutter, einer Frau, die starb, als ich noch sehr klein war. Mit dem Wenigen, das ich von ihr weiß, stilisiere ich sie gerne zu einer Feministin nach meinem Geschmack. Das Endprodukt ist bestimmt zu einem Drittel wahr, zumindest aber wohlwollend an der Wahrheit entlang zusammengesponnen. Sie war berufstätig und alleinerziehende Mutter, als sie meinen Großvater traf. Der war hinter ihr her wie der Teufel hinter der armen Seele, was sicher auch an ihren seltenen roten Haaren lag. Trotzdem ließ sie ihn ewig zappeln.

Die goldene Atatürk-Münze war ihr einziges Schmuckstück, sie wanderte zunächst zu meiner Mutter und dann zu mir. Wie eine Botschaft meiner Großmutter: Diesem Mann ist es zu verdanken, dass wir nicht unter dem Joch von Ajatollahs leben. Dass wir keine Kopftücher tragen müssen. Dass wir moderne Krankenhäuser haben und mit lateinischen Buchstaben schreiben. Außerdem war Atatürk blond. Ein blonder Türke! Ich bin ja auch viel zu blond für eine Türkin.

Und was machte ich damit nun? Statt etwas Vernünftiges zu studieren wie Jura oder Biochemie, fing ich an, in einem Politikstudium auf Atatürk herumzukauen und ihn abzunagen wie einen Chickenwing, bis nur noch ein blasser Knochen übrig blieb. Atatürk regierte autoritär und es gab nur eine Partei, nämlich seine? Menschen (vor allem Frauen) wurden aufgrund ihrer Religion diskriminiert, die Kurden unterdrückt und Journalisten reihenweise eingesperrt? Hört sich bekannt an. Atatürk hat die Präzedenzfälle für das Demokratie-Theater geschaffen, das Erdoğan heute aufführt.

Atatürk, Vater der Türken. Dass Papa nicht alles richtig macht, ist eben auch eine Lektion des Älterwerdens. Die goldene Münze: blieb also im Kästchen.

Doch jetzt, wo Erdoğan Deutschland als faschistisch beschimpft und emsig an der Islamisierung der Türkei arbeitet, ertappe ich mich dabei, wie ich mir meinen alten Atatürk zurückwünsche. Obwohl er mich als Journalistin wohl postwendend in den Bau geschickt hätte. Ich (er)finde Ausreden: Religion sollte eben Privatsache sein. Damals zerfiel das Osmanische Reich, es war eben eine andere Zeit. Türkische Frauen wurden unter Atatürk Anwältinnen und Ärztinnen. Und überhaupt sträubt sich in mir alles, wenn ich bei AKP-Veranstaltungen in Deutschland das zu hören bekomme: "Atatürk war doch gar kein Muslim!" Als wäre das ein Argument gegen ihn.

Half aber alles nichts. Ich fand genügend echte Argumente. Meine Atatürk-Medaille hat zwei Seiten - eine davon ist sehr stark angelaufen.

© SZ vom 16.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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