Die einzige deutsche Minenräumerin erzählt:Was vom Kriege übrig blieb

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Ein einziger unbedachter Schritt, eine einzige schnelle Bewegung kann den Tod bedeuten, jeden Tag. Vera Bohle ist die einzige Minenräumerin Deutschlands. Ein Gespräch über ein Leben mit dem, was vom Kriege übrig bleibt.

Birgit Lutz-Temsch

Es sind nur zwei Schritte, nur zwei unbedachte Schritte. Es sind die letzten. Hinterher haben ein Junge und ein Mann keine Beine mehr. Der Junge hat dem Mann der Hilforganisation gezeigt, wo ein Minenfeld ist. Er wusste nicht, wo es anfängt. Die Mine explodiert, sie reißt dem Jungen die Gliedmaßen ab. Der Mann macht automatisch einen Schritt vorwärts, um dem Jungen zu helfen. Und tritt selbst auf eine Mine.

(Foto: Foto: oh)

Szenen wie diese, passiert 2001 im Kosovo, hat Vera Bohle vor Augen, wenn sie arbeitet, muss sie vor Augen haben, wenn sie nicht selbst eines Tages einen unbedachten Schritt, eine zu schnelle Handbewegung machen will. Vera Bohle ist die einzige deutsche Minenräumerin, ihre explosive Tätigkeit hat sie in den Kosovo, nach Afghanistan, Mosambik und Simbabwe geführt. Heute abend liest sie in der Ludwigs-Maximilians-Universität aus ihrem Buch "Mein Leben als Minenräumerin".

Gern ins Ausland wollte die heute 36-Jährige nach der Schule, und versuchte diesen Wunsch zuerst als Journalistin zu erfüllen. Auch da hatte sie schon keine Angst vor Krisengebieten. Doch als sie in Somalia, wo sie als Cutterin für das ZDF arbeitete, von ihrem Hoteldach auf ein benachbartes, elendes Flüchtlingslager blickte, bekam sie Zweifel, ob ihr Weg der richtige war. Täglich wurden die Toten aus der Lumpenstadt getragen. "Da habe ich mich auf einmal gefragt, ob es sinnvoll ist, wieder runterzugehen und noch einen Bericht über dieses Elend, das in deutschen Wohnzimmern niemanden interessierte, zu schneiden, oder lieber eine Flasche Wasser ins Lager zu tragen und direkt zu helfen", sagt Bohle.

Das Gefühl, nur passiv zu rekapitulieren und nicht selbst aktiv zu werden, verstärkte sich weiter. Und als sie schließlich erfuhr, dass die Dresdner Sprengschule bosnische Flüchtlinge zu Minenräumern ausbildete, fasste sie den folgenschwersten Entschluss ihres Lebens: Sie ließ sich zur Minenräumerin ausbilden.

Ihr erster Job führt sie für die Hilfsorganisation Help in den Kosovo, darauf folgen Mosambik und Simbabwe, später Afghanistan. Sie sucht nach Minen, Granaten, nach allem, was vom Kriege übrig ist, trägt die noch scharfen Waffen in Gruben, wo sie einmal am Tag gesprengt werden. Und jeder Gang könnte ihr letzter sein, wenn sie stolpert, niest, eine Granate zu schnell bewegt. Oft genug sind die Minenfelder in keinen Karten verzeichnet, zeigen Kinder den Räumern, wo sie Munition gefunden haben, suchen Bohle und ihre Kollegen auf gut Glück. Oft genug werden verminte Zonen erst dann entdeckt, wenn sie jemand betritt.

Stück für Stück geben die Räumer den zurück gekehrten Einwohnern der zerbombten Kriegsgebiete ihr Land zurück. "Wenn ein Bauer endlich seine Felder wieder bestellen kann, ohne Angst haben zu müssen, dabei in Stücke gerissen zu werden", sagt Bohle "dann haben wir wieder jemandem geholfen. Das macht den Sinn dieser Arbeit aus." Dass an vielen anderen Plätzen der Welt immer noch Milliarden von Minen im Boden vergraben sind, interessiere in einem solchen Moment nicht. "Würde man so denken, würde man wahrscheinlich verzweifeln", sagt sie.

Ihre Eltern hätten ihre Entscheidung akzeptiert, sagt sie. Ihre Mutter habe sich dabei ihren eigenen Standpunkt geschaffen, damit umzugehen, dass die Tochter bei der Arbeit ständig unter Lebensgefahr steht: Andere junge Menschen richteten sich mit Drogen zugrunde oder setzten ihr Leben bei Extremsportarten aufs Spiel. Sie hingegen tue wenigstens etwas Sinnvolles.

Als einzige Frau sei sie eine Exotin, sagt sie. In der Ausbildung wurde ihr ein Stromkreis anhand eines Puppenhauses erklärt, ihre Fähigkeit, große Jeeps zu fahren, wird manchmal angezweifelt, und ab und zu wollen sich Männer vor ihr produzieren und spielen mit der geborgenen Munition herum. "Jedes Mal, wenn ich neu wohin komme, muss ich doppelt beweisen, dass ich weiß, was ich tue", sagt Bohle. "Aber das ist nichts, was andere Frauen in anderen Berufen nicht auch kennen." Eine Burka aufzuziehen allerdings habe sie sich auch in Afghanistan strikt geweigert. "Nicht nur, weil ich nicht automatisch in diese Frauenschublade wollte", sagt sie. "Ich muss schließlich was sehen bei meiner Arbeit."

Sich nicht an die Gefahr zu gewöhnen, nicht leichtsinnig zu werden, vor allem dann nicht, wenn lang nichts Schlimmes passiert sei, sei mit das Schwierigste, sagt Bohle. So habe sie irgendwann im afghanischen Tora Bora erkannt, dass sie auf dem besten Weg war, den entscheidenden Fehler zu machen: Sie stieg aus einem Auto aus, schlug die Tür zu - und ihr Daumen war noch drin. Mit dem Schmerz kam die Erkenntnis, dass es um ihre Konzentration nicht mehr ums beste bestellt war. Um eine der wichtigsten Eigenschaften eines Minenräumers.

Bei der anschließenden selbst verordneten Pause in sicherer, friedlich-europäischer Umgebung kamen die Alpträume. "Als ich durch Genf ging, hatte ich auf einmal das Gefühl, eine Außerirdische zu sein", sagt sie. "Keine Granaten, man kann überall hintreten, niemand ist gefährlich. Dass es gleichzeitig auf der Welt Orte gibt, an denen eine gnadenlose Gewalt herrscht, habe ich auf einmal nicht mehr zusammen bekommen." Dieser Wechsel zwischen den Welten falle ihr noch immer schwer. Das Schreiben ihres 382 Seiten starken Buchs habe ihr geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. "Es war alles noch präsent, fast minutiös konnte ich die Abläufe wiedergeben", sagt sie. "Ich hatte nichts davon verarbeitet."

Und zu verarbeiten hätte es viel gegeben. Mittlerweile arbeitet Bohle oft in beratender Tätigkeit, kontrolliert, ob bei den Minensuchen alles richtig abläuft. Und wenn etwas schief geht, untersucht sie die Unfälle, um sie künftig zu vermeiden. Einmal zum Beispiel sollte ein schwedischer Kollege Leichen aus einem Tunnel bergen, der mit Splitterspringminen gepflastert war. Alle Minen waren entfernt, und eigentlich, so ist in einem solchen Fall das Vorgehen, hätte das Team an den Leichen nun ein Seil befestigen und sie herausziehen müssen. Das wollte der Schwede nicht, die Getöteten durch den Dreck ziehen. Und hob einen Mann auf. Unter diesem lag eine nicht detonierte Mine. Sie sprang nach oben und explodierte, und wie immer war sie tödlich, weil Splitterspringminen so konzipiert sind, dass sie den Rumpf der Menschen treffen. Drei ihrer Kollegen starben bei diesem Unfall.

Persönliche Wut gegen die andere Seite, die solche Minen produzieren und in den Boden legen, hege sie nicht, sagt sie. Sie befürworte auch Armeen, um funktionierende Demokratien im Ernstfall zu verteidigen. "Aber ich selbst würde nicht genügend Erklärungsmodelle für eine solche Tätigkeit finden", sagt sie. "Meins wäre das nicht."

Vortrag mit Vera Bohle heute abend, 19 Uhr, im Hörsaal 217 im Hauptgebäude der LMU. Das Buch "Mein Leben als Minenräumerin" ist im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.

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