Als Oguz A. auf dem dunklen Parkplatz am Münchner Südbahnhof seine Pistole durchlud, sie in den Mund von Ersan E. stieß und den Abzug drückte, hatte dieser "mit dem Leben abgeschlossen". Warum sich kein Schuss löste, ob die Waffe überhaupt scharf war, oder es sich "nur'", wie von Oguz A. behauptet, um eine "Scheinhinrichtung" mit einer ungeladenen Gaspistole handelte, all das sind bis heute unbeantwortete Fragen. Geklärt ist hingegen das Tatmotiv. Ersan E. hatte sich mit der 17-jährigen Schwester eines Freundes von Oguz A. eingelassen. Sex vor der Ehe, das war in den Augen der jungen Türken nicht hinnehmbar. Nach ihren Moralvorstellungen hatte Ersan E. die "Familienehre" beschmutzt und musste bestraft werden.
Auf diesem Parkplatz nahe der Implerstraße fürchtet Ersan E. um sein Leben
(Foto: Foto: Stephan Rumpf)Geschichten von brutalen Abrechnungen im Namen der "Ehre", von Drohungen und Misshandlungen bis hin zu so genannten Ehrenmorden sind in jüngster Zeit einige publik geworden. Schnell macht dann das Diktum vom "Kampf der Kulturen" die Runde, werden voreilige Urteile gefällt, wird die Existenz von "Parallelgesellschaften" gegeißelt und dem Ende von "Multi-Kulti" das Wort geredet. Der "Ehrenmord" erscheint als schlimmster Ausdruck einer Kultur, die sich nicht an westliche Normen anpassen will. Auch die Scheinhinrichtung am Südbahnhof passt nur auf den ersten Blick in diese Kategorie. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart die Geschichte vor allem die persönliche Tragödie eines jungen Mannes, der in keiner seiner beiden Welten, weder der deutschen noch der türkischen, jemals angekommen ist. Und sie zeigt, wie ein Opfer selbst zum Täter wurde.
Die Mutter als Mörderin
Seit April dieses Jahres ist das Münchner Landgericht damit beschäftigt, den Fall aufzuklären. Am Anfang saßen noch vier Angeklagte, allesamt türkischer Nationalität oder zumindest türkischer Abstammung, wegen Geiselnahme, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung auf der Anklagebank. Zwischenzeitlich wurden zwei Angeklagte als "Mitläufer" zu jeweils 18 Monaten Haft verurteilt.
Übrig sind noch die Hauptangeklagten Oguz A., 27, und Hakan Ö., 23. Letzterer gilt als der Strippenzieher, als der Mann, der die ganze Geschichte eingefädelt und damit am meisten Schuld auf sich geladen hat. Hakan Ö. wurde 1982 in München geboren. Seine Eltern brachten ihn nach der Geburt zu den Großeltern nach Izmir. Zehn Jahre blieb er dort, in dieser Zeit wurden ihm die Eltern zu "fremden Personen", die ihn bei Besuchen zwar mit Geschenken überhäuften, ihm aber keine Liebe gaben. Die Entfremdung war nicht mehr zu überbrücken, auch nicht, als er 1992 nach München zurückkehrte. Die Ehe der Eltern war da wohl schon zerrüttet, die Mutter flüchtete des öfteren in ein Frauenhaus.
1998 wurde den Eltern das Sorgerecht für Hakan und seine kleine Schwester Tugba entzogen. Beide kamen erst getrennt in Heime, dann konnten sie gemeinsam zu einem Onkel ziehen. Es war ein zerrissenes Leben, das der kleine Hakan führte. Die dominante Mutter habe ihm schon früh die Rolle des Vaters zugedacht, vertraute er einem Gerichtspsychiater an. Sie habe in der Familie "alles bestimmt", seinen Vater empfand er als zu nachgiebig und schwächlich, ihm habe die "männliche Ehre" gefehlt. Sein Vorbild wurde der Onkel. "Er hat mir gezeigt, was ein richtiger Mann ist", offenbarte er dem Gutachter. Ihm sagte er auch, dass er sich der "türkischen Tradition" verpflichtet fühle.
Am 8. Februar 1998 wurde Vater Mehmet Ö. in seiner Wohnung in der Aschenbrenner Straße mit Hammerschlägen und Messerstichen regelrecht hingerichtet. Die Mörder wurden nie gefasst. Zeitweise geriet sogar Hakan in Verdacht. Doch dann kam die Wahrheit ans Licht, und sie war monströs. Hakans Mutter hatte die Auftragskiller engagiert. Aus Hass, aber auch aus Angst vor einer Scheidung und den damit verbundenen finanziellen Verlusten hatte sie beschlossen, ihren Mann töten zu lassen.
Den damals 15-jährige Hakan hatte sie bewusst in das Mordkomplott eingeweiht, um ihn damit zum Stillhalten zu zwingen. Doch Hakan hielt nicht still. Im Prozess gegen die Mutter packte er aus. Sevil Ö. wurde schließlich im Februar 2000 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Verhalten der Mutter, die den Höllenqualen des Sohnes seelenruhig zugeschaut hatte, wurde von den Richtern als "besonders verwerflich" eingestuft.