Süddeutsche Zeitung

Der Fall des Hakan Ö.:Im Namen der Ehre

Fünf Männer auf einem Parkplatz. Ein Schuss, der sich nicht löste. Und die Geschichte einer persönlichen Tragödie.

Alexander Krug

Als Oguz A. auf dem dunklen Parkplatz am Münchner Südbahnhof seine Pistole durchlud, sie in den Mund von Ersan E. stieß und den Abzug drückte, hatte dieser "mit dem Leben abgeschlossen". Warum sich kein Schuss löste, ob die Waffe überhaupt scharf war, oder es sich "nur'", wie von Oguz A. behauptet, um eine "Scheinhinrichtung" mit einer ungeladenen Gaspistole handelte, all das sind bis heute unbeantwortete Fragen. Geklärt ist hingegen das Tatmotiv. Ersan E. hatte sich mit der 17-jährigen Schwester eines Freundes von Oguz A. eingelassen. Sex vor der Ehe, das war in den Augen der jungen Türken nicht hinnehmbar. Nach ihren Moralvorstellungen hatte Ersan E. die "Familienehre" beschmutzt und musste bestraft werden.

Geschichten von brutalen Abrechnungen im Namen der "Ehre", von Drohungen und Misshandlungen bis hin zu so genannten Ehrenmorden sind in jüngster Zeit einige publik geworden. Schnell macht dann das Diktum vom "Kampf der Kulturen" die Runde, werden voreilige Urteile gefällt, wird die Existenz von "Parallelgesellschaften" gegeißelt und dem Ende von "Multi-Kulti" das Wort geredet. Der "Ehrenmord" erscheint als schlimmster Ausdruck einer Kultur, die sich nicht an westliche Normen anpassen will. Auch die Scheinhinrichtung am Südbahnhof passt nur auf den ersten Blick in diese Kategorie. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart die Geschichte vor allem die persönliche Tragödie eines jungen Mannes, der in keiner seiner beiden Welten, weder der deutschen noch der türkischen, jemals angekommen ist. Und sie zeigt, wie ein Opfer selbst zum Täter wurde.

Die Mutter als Mörderin

Seit April dieses Jahres ist das Münchner Landgericht damit beschäftigt, den Fall aufzuklären. Am Anfang saßen noch vier Angeklagte, allesamt türkischer Nationalität oder zumindest türkischer Abstammung, wegen Geiselnahme, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung auf der Anklagebank. Zwischenzeitlich wurden zwei Angeklagte als "Mitläufer" zu jeweils 18 Monaten Haft verurteilt.

Übrig sind noch die Hauptangeklagten Oguz A., 27, und Hakan Ö., 23. Letzterer gilt als der Strippenzieher, als der Mann, der die ganze Geschichte eingefädelt und damit am meisten Schuld auf sich geladen hat. Hakan Ö. wurde 1982 in München geboren. Seine Eltern brachten ihn nach der Geburt zu den Großeltern nach Izmir. Zehn Jahre blieb er dort, in dieser Zeit wurden ihm die Eltern zu "fremden Personen", die ihn bei Besuchen zwar mit Geschenken überhäuften, ihm aber keine Liebe gaben. Die Entfremdung war nicht mehr zu überbrücken, auch nicht, als er 1992 nach München zurückkehrte. Die Ehe der Eltern war da wohl schon zerrüttet, die Mutter flüchtete des öfteren in ein Frauenhaus.

1998 wurde den Eltern das Sorgerecht für Hakan und seine kleine Schwester Tugba entzogen. Beide kamen erst getrennt in Heime, dann konnten sie gemeinsam zu einem Onkel ziehen. Es war ein zerrissenes Leben, das der kleine Hakan führte. Die dominante Mutter habe ihm schon früh die Rolle des Vaters zugedacht, vertraute er einem Gerichtspsychiater an. Sie habe in der Familie "alles bestimmt", seinen Vater empfand er als zu nachgiebig und schwächlich, ihm habe die "männliche Ehre" gefehlt. Sein Vorbild wurde der Onkel. "Er hat mir gezeigt, was ein richtiger Mann ist", offenbarte er dem Gutachter. Ihm sagte er auch, dass er sich der "türkischen Tradition" verpflichtet fühle.

Am 8. Februar 1998 wurde Vater Mehmet Ö. in seiner Wohnung in der Aschenbrenner Straße mit Hammerschlägen und Messerstichen regelrecht hingerichtet. Die Mörder wurden nie gefasst. Zeitweise geriet sogar Hakan in Verdacht. Doch dann kam die Wahrheit ans Licht, und sie war monströs. Hakans Mutter hatte die Auftragskiller engagiert. Aus Hass, aber auch aus Angst vor einer Scheidung und den damit verbundenen finanziellen Verlusten hatte sie beschlossen, ihren Mann töten zu lassen.

Den damals 15-jährige Hakan hatte sie bewusst in das Mordkomplott eingeweiht, um ihn damit zum Stillhalten zu zwingen. Doch Hakan hielt nicht still. Im Prozess gegen die Mutter packte er aus. Sevil Ö. wurde schließlich im Februar 2000 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Verhalten der Mutter, die den Höllenqualen des Sohnes seelenruhig zugeschaut hatte, wurde von den Richtern als "besonders verwerflich" eingestuft.

Während des fast ein Jahr andauernden Prozesses stand Hakan Ö. immer unter Polizeischutz. Ständig musste er die Bleibe wechseln, wurde im gepanzerten Wagen herumgefahren. Einziger Halt war seine kleine Schwester Tugba, sie war das letzte, was ihm von seiner Familie geblieben war. Tugba Ö. war bei der Ermordung des Vaters gerade einmal zehn Jahre alt. Auch sie verlor mit einem Schlag alle Bezugspersonen. Die gemeinsame Leidensgeschichte scheint die Geschwister zunächst aneinander geschweißt zu haben. Doch als aus der kleinen Tugba eine selbstbewusste Frau wurde, war der Konflikt vorgezeichnet.

Für die Schwester fühlte er sich offenbar als eine Art Vaterersatz. Das ging so weit, dass er anfing, Tugba zu überwachten und zu kontrollieren. "Er hat die Regeln aufgestellt, und dazu gehörte natürlich: kein Sex vor der Ehe", sagte Tugba Ö. als Zeugin aus. "Mit ihm zu reden war unmöglich. Ich hatte viel zu viel Angst vor ihm." Im Dezember 2004 lernte Tugba Ersan E. kennen und lieben. Auf Dauer blieb das Hakan Ö. nicht verborgen. Er stellte die Schwester zur Rede: "Du weißt ja, wie das bei Türken ist. Du musst Jungfrau sein, wenn du heiratest." Doch Tugba Ö. wollte sich nicht bevormunden lassen. Türkische Männer würden sich mit einer Entjungferung auch noch brüsten, "doch ich als Frau darf das natürlich nicht", schimpfte sie.

Letzter Halt und HassobjektHakan

Ö. war solchen Argumenten nicht zugänglich. Er habe doch auch vor seiner Heirat mit seiner Frau zusammengelebt, hielt ihm der Richter einmal vor. "Ich hab sie ja dann auch geheiratet", antwortete er.

Als Tugba Ö. und Ersan E. am 16. Mai vergangenen Jahres nachts in ihre Wohnung zurückkehrten, dauerte es nicht lange, da stand Hakan Ö. vor der Tür. Immer wieder fragte er, ob sie zusammen geschlafen hätten. Dann begann der mehr als 100 Kilo schwere 23-Jährige auf beide einzuschlagen. Mit Faustschlägen und Fußtritten soll er sie laut Anklage stundenlang malträtiert haben. Schließlich äußerte er: "Was soll ich machen. Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich muss euch umbringen."

Gegen vier Uhr morgens rief Hakan Ö. drei Freunde an. Die erklärten sich sofort bereit, ihm zu helfen. Einer von ihnen ist Oguz A.; er wird später behaupten, er habe doch nur "schlichten" und dadurch Schlimmeres verhindern wollen. Ersan E. wird gezwungen, in ein Auto einzusteigen. Die vier jungen Männer fahren mit ihm auf den einsamen Parkplatz beim Südbahnhof. Dort steigen Hakan Ö. und zwei der Freunde aus. Oguz A. bleibt mit Ersan E. auf der Rücksitzbank zurück, zückt die Pistole und drückt sie ihm in den Mund.

Für Hakans Verteidiger Florian Ufer ist der Fall kein "rein türkisches Problem". Auch in deutschen Familien könnten 17-Jährige nicht "einfach machen, was sie wollen". Auch hier gebe es Regeln. Im Übrigen habe Hakan Ö. nicht gewusst, dass Oguz A. eine Pistole hatte. Sein Ziel sei es nur gewesen, die Schwester und ihren Freund "einzuschüchtern", um sie so zur Heirat zu zwingen.

Auch für Staatsanwalt Martin Hofmann taugt der Fall nicht zur Stilisierung als "Kampf der Kulturen". Ein Strafprozess sei kein Ort, an dem Urteile über Wertvorstellungen zu fällen seien. Es müsse aber klar sein, dass sich Straftäter nicht auf fremde Wertvorstellungen berufen könnten, um sie dann als "Deckmantel für menschenverachtende Verbrechen" zu benutzen. Hofmanns Meinung nach habe Hakan Ö. vor allem einen "Kontrollverlust" befürchtet. Mit seiner Rolle als Familienoberhaupt sei er überfordert gewesen. Es habe ihn auch gekränkt, von der Schwester nicht anerkannt zu werden. Ein Gutachter hatte dies im Prozess einmal mit den Worten umschrieben, dass Hakan Ö. dem "Klischee einer maskulinen Idealvorstellung" nachhinge.

Ein Drama ohne Sieger

Nach fünf Monaten ist das Ende des Verfahrens nun in Sicht. Am Montag will das Landgericht sein Urteil über Hakan Ö. und Oguz A. verkünden. Eines steht schon jetzt fest: Verlierer sind in diesem Drama alle. Hakan Ö. muss wohl für mehrere Jahre hinter Gittern, wenngleich er inzwischen viel Abstand gewonnen hat und die Tat nüchtern analysiert: "Die ganze Sache war vorn bis hinten Scheiße." Verlierer sind aber auch Ersan E. und Tugba Ö. Ersan E. leidet unter Alpträumen und Panikattacken. Ein Psychiater hat ihm eine ,,posttraumatische Belastungsstörung'' attestiert. Angst ist auch ein ständiger Wegbegleiter von Tubga Ö. Mit ihrem Bruder hat sie gebrochen, die letzten Bande sind zerschnitten. Ihr letztes Wort als Zeugin in diesem Prozess klang wie ein Verzweiflungsschrei: "Ich habe keine Familie mehr."

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SZ vom 09.09.06
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