Das neue Ausbildungsjahr beginnt:Der Nachwuchs lässt sich bitten

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Im Raum München gibt es mehr als 4000 freie Lehrstellen. Viele Unternehmen suchen verzweifelt Berufsanfänger, doch denen fehlt manchmal die nötige Qualifikation

Von Christina Hertel

Die Situation sei eine Katastrophe, sagt Christian Hollweck. Er ist Hoteldirektor in Aying, Chef von 90 Angestellten, ein Mann, der seit 30 Jahren in dem Job arbeitet und ihn gerne macht. Trotzdem hat er ein Problem: Wenn das Ausbildungsjahr am 1. September beginnt, fehlen ihm vier Leute - zwei in der Küche und zwei im Restaurant. "Das macht uns wirklich zu schaffen", sagt er, denn wenn Auszubildende fehlen, seien irgendwann nicht mehr genug Fachkräfte da. Dann gibt es zwar viele, die sonntags gerne einen Braten essen würden. Aber keinen, der ihn zubereitet und niemanden, der ihn serviert.

Hollwecks Sorgen teilen viele Betriebe - nicht nur in der Gastronomie. Ende Juli gab es laut Arbeitsagentur im Raum München noch fast 4400 unbesetzte Stellen - etwa 200 mehr als im Vorjahr. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Zu wenig junge Leute bewerben sich. In München gibt es etwa 12 000 Ausbildungsstellen, aber nur 7500 Menschen, die einen Beruf erlernen wollen und eine Bewerbung abgeschickt haben. Das heißt: Statistisch gesehen kommen auf jeden Bewerber mehr als eineinhalb Stellen.

"Diese Generation tickt anders", sagt Christian Hollweck. Seine Eltern führten einen kleinen Gasthof am Ammersee. Mitte der Achtziger Jahre, erzählt er, konnten selbst sie sich die Bewerber aussuchen. "Sie kamen aus allen Teilen Deutschlands zu uns." Heute ist das anders. Besonders in der Gastronomie müssen die Betriebe werben: Etwa 100 Stellen, das ist ungefähr die Hälfte des Angebots, waren im Juli im Raum München noch nicht besetzt. Bei den Köchen sehen die Zahlen ähnlich aus.

Um junge Leute für eine Ausbildung in diesem Bereich wieder zu begeistern, hat das Hotel Aying Patenschaften mit Schulen geschlossen. Hollweck stellt zum Beispiel in der Realschule Ebersberg regelmäßig verschiedene Ausbildungsberufe in der Gastronomie vor und wirbt bei den Schülern für ein Schnupperpraktikum. "Wir wollen die Jugendlichen emotional an uns binden", sagt Hollweck. Locken will das Hotel außerdem mit kleinen Extras: Kaffee-, Wein-, und Cocktailschulungen zum Beispiel. Oder mit einem Praktikum im Ausland. Wenn die Auszubildenden noch keinen Führerschein haben, werden sie dafür ohne Diskussion freigestellt. Auch auf die Eltern geht Hollweck zu: "Wir versuchen, ihnen zu erklären, welche Chancen ihr Kind bei uns hätte."

Tatsächlich seien die Eltern ein wesentlicher Faktor bei der Berufswahl, glaubt Harald Gerster, der bei der Handwerkskammer im Bereich der Berufsbildung arbeitet. "Mit 15 ist der Beruf und Arbeit ein anstrengendes Thema. Als Jugendlicher will man sich damit nicht befassen." Früher hätten die Eltern ihre Kinder dann dazu gebracht, eine Ausbildung anzufangen. "Und heute raten sie ihnen eher davon ab. Sie sagen: Du sollst es mal besser haben als ich." Doch der Glaube, jeder könne ein Studium absolvieren und eines Tages Chef sein, sei ein Trugschluss. Tatsächlich schaffen fast 30 Prozent der Studienanfänger im Bachelor keinen Abschluss. Viele beginnen dann doch eine Ausbildung. Das mache sich am Durchschnittsalter der Bewerber bemerkbar, sagt Gerster. "Früher hat man mit 15 eine Lehre begonnen, heute im Schnitt mit 19." Inzwischen habe etwa jeder zehnte Auszubildende Abitur oder Fachabi. Vor zehn Jahren seien es gerade einmal vier Prozent gewesen.

Werbung in Schulen und Überzeugungsarbeit bei den Eltern, wie es das Ayinger Hotel macht, können sich nicht alle Betriebe leisten. Richard Eichinger zum Beispiel hat dafür keine Zeit. Er führt eine kleine Bäckerei in Obersendling, die sein Vater vor 40 Jahren gegründet hat. Es gibt zwölf Angestellte, aber keinen Azubi. Wann die Bäckerei das letzte Mal jemanden ausbildete, daran kann sich Eichinger gar nicht mehr erinnern. "Ich hätte jetzt gerne mal wieder einen gehabt, damit ich ihn so anlernen kann, dass es für unseren Betrieb passt." Eichinger meldete sich beim Arbeitsamt. Doch er hörte nichts. Den Grund kann er sich denken: die Arbeitszeiten. Nach der Ausbildung muss ein Bäcker aufstehen, wenn andere schlafen - oft auch samstags und sonntags.

Am 1. September werden allerdings nicht nur viele Betriebe ohne Auszubildende da stehen, sondern auch viele junge Leute ohne Lehrstelle. Bei fast 3000 in der Region hat es mit ihrer Bewerbung bis Ende Juli nicht geklappt. Hubert Schöffmann, Leiter der Abteilung Ausbildung in der Industrie- und Handelskammer (IHK), nennt das "Matching-Probleme". Die Jugendlichen, meint er, seien zu sehr auf ihren Traumberuf fixiert, obwohl ihnen vielleicht die Fähigkeiten dazu fehlten. Bei einer Umfrage der IHK gaben 60 Prozent der Unternehmen an, das sie keine geeigneten Bewerbungen bekommen hätten. Fast ebenso viele stellten bei den Auszubildenden Mängel beim "mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen" fest und fast die Hälfte sieht Defizite bei den elementaren Rechenfähigkeiten. Die Folge: Drei Viertel der Betriebe bieten ihren Auszubildenden inzwischen Nachhilfe an.

Hoteldirektor Hollweck glaubt nicht, dass sich die Situation in den nächsten Jahren bessert. Das einzige, was aus seiner Sicht helfen würde, wäre mehr Geld. Momentan bekommen Azubis in der Gastronomie 755 im ersten und 950 Euro im dritten Lehrjahr. Doch ein höherer Lohn, sagt Hollweck, führe auch zu höheren Preisen. Dass Geld allein helfen könnte, daran glaubt Hubert Schöffmann von der IHK nicht. Er meint, das Image der Ausbildung müsse sich ändern. Zu wenig werde von den Erfolgsgeschichten nach einer Ausbildung erzählt. "Dabei haben wir einen SPD-Kanzlerkandidaten, der Buchhändler gelernt hat. Und auch unsere bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner hat eine Ausbildung gemacht - als Radio- und Fernsehtechnikerin."

Bäckermeister Richard Eichinger hingegen hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er jemanden für seine Backstube findet. Diese Woche hat er einen Praktikanten zum Probearbeiten eingeladen. Vielleicht klappt es ja mit ihm. Es ist ein Flüchtling aus Sierra Leone.

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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