Das Münchner Umland:Land in Sicht

Lesezeit: 3 min

Schattige Biergärten und kühle Seen, am zum Greifen nahen Horizont die Kulisse der Münchner Hausberge. Das ist die Region, das direkte Umland der bayerischen Metropole. Die Münchner haben permanent Land in Sicht.

Martin Bernstein

Wer wissen will, wie echte Parallelgesellschaften ausschauen, muss nicht nach Berlin-Kreuzberg fahren. "Wenn die zu uns wollen, dann müssen doch nicht wir uns verändern - dann sollen die sich anpassen." Das sagt der Bürgermeister einer mittelgroßen Münchner Stadtrandgemeinde schon mal im vertraulichen Gespräch.

Der Starnberger See. (Foto: Foto: dpa)

Vier Kilometer sind es von seinem Rathaus bis zur Münchner Stadtgrenze, 35 Minuten, wenn alles gut geht, zum Marienplatz. Und "die" sind nicht integrationsverweigernde Immigranten, sondern Zugezogene, Neubürger. Sie bauen und leben auf der ländlichen Seite jener Grenze, meist kaufen sie dort ein, zumindest das, was man so zum täglichen Leben braucht, manchmal arbeiten sie sogar dort. Aber obwohl sie inzwischen oft in der Mehrheit sind, reden sie selten mit in der Gemeinde.

Manchmal lässt man sie nicht, ebenso oft wollen sie gar nicht. Sie freuen sich, wenn fünfzig Meter neben ihrem Haus der Maibaum aufgestellt wird - so wie sie sich über den Auftritt einer Folkloregruppe am Urlaubsort freuen. Ihre Folklore, ihre Kultur ist es nicht. Und wenn sie versuchen, ihre Kultur am neuen (denn das ist er auch nach zehn Jahren noch) Wohnort zu leben, dann bleiben sie, argwöhnisch beäugt bis subtil sabotiert, meist unter sich. Im privaten Literaturkreis, in der Montessori-Initiative, in der evangelischen Krabbelgruppe.

Die Frage ist, ob das immer und ausschließlich und vor allem für jeden der Beteiligten nur schlecht sein muss. Der Münchner, auch wenn er inzwischen jenseits der Stadtgrenze wohnt, braucht den genuinen Umländer offenbar als Spiegel seiner selbst. München kann das Millionendorf-Spiel nur spielen in der festen Gewissheit, dass gleich da draußen, im Isartal und im Dachauer Moos, im Ebersberger Forst und am Starnberger See eine ländliche Kultur besteht, derer man sich bei Bedarf bedienen kann.

Welche andere Stadt als München könnte es sich leisten, ihre wenigen Hochhäuser an die Peripherie zu verbannen und das Herz der Innenstadt für die Standl eines Viktualienmarkts zu reservieren? Die Stadt lebt gut mit dem Import ausgewählter ländlicher Kultur und dem Image, das sie sich damit gibt. Und das Umland, die Region, der Speckgürtel? In diesem Bereich wohnen noch einmal so viele Menschen wie in München. Sie haben - statistisch gesehen - genauso viel Geld in der Tasche wie ihre Münchner Nachbarn.

"Fünf der zehn kaufkräftigsten Stadt- und Landkreise Deutschlands liegen im Raum München", verkündete kürzlich eine Studie. Der Wirtschaftsraum mit den an München angrenzenden Landkreisen Dachau, Freising, Erding, Ebersberg, Bad Tölz-Wolfratshausen, Starnberg, Fürstenfeldbruck und jenem mondsichelförmigen Gebilde, das München im Norden, Osten und Süden begrenzt und sich Landkreis München nennen darf - dieser Wirtschaftsraum boomt. Der Flughafen im Erdinger Moos hat als viel zitierte "Job-Maschine" den angrenzenden Kommunen nahezu Vollbeschäftigung verschafft.

Ein paar verschwundene Dörfer fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Denn insgesamt, das weiß man in der Region, werden die kulturellen Eigenarten nicht verschwinden. Dafür werden schon die Münchner sorgen, die im Isartal residieren, am Ufer des Starnberger Sees flanieren und irgendwo im Dachauer Hinterland dinieren: "Erstklassige Küche - und Preise, du glaubst es nicht . . ."

Wirklich neu ist dieses zugleich ambivalente und symbiotische Verhältnis von Stadt und Land nicht. Es ist sogar eigentlich ziemlich traditionell. Man könnte es mit den Wittelsbachern beginnen lassen, die - natürlich - vom Land kamen, sich in München als Herzöge etablierten und, kaum dass sie das auf Kosten der im Umland verbliebenen Rivalen geschafft hatten, wieder in die Idylle der ländlichen Sommerfrische hinaus drängten. "Und wenn in München die Cholera wütete, dann kamen die Fürsten mit ihrem ganzen Hofstaat heraus zu uns, um wieder fröhlich zu sein", erzählt die Stadtführerin in die Filmkamera. Sie erzählt es in Dachau.

Dort hat man gleichwohl nach Jahrzehnten voller Peinlichkeiten den Versuch aufgegeben, "das eine Dachau" (nämlich das des Schlosses und der Malerkolonie) gegen "das andere" (das des Konzentrationslagers) auszuspielen. Der neidvolle Blick zu den Nachbarn ist dennoch geblieben.

Die Starnberger, zum Beispiel, haben niemals als Sinnbild reaktionärer Dumpfheit herhalten müssen - wie die Dachauer Bauern in satirischen Publikationen aus München schon um 1900. In Starnberg pflegt man lieber seit Jahrhunderten das noble Image des "Fürstensees". Die Wittelsbacher haben dafür gesorgt: Adelsfamilien und zu Geld gekommene Münchner Patrizier hatten sich nach herzoglichem Willen an den Ufern des Sees ansiedeln und repräsentative Landschlösser errichten dürfen.

Herrenhäuser, Gärten und Landschaft sollten den repräsentativen Rahmen abgeben für fürstliche Vergnügungen, für Ausflugsfahrten der herzoglichen Flotte auf dem Hofsee. Gerhard Schober, Starnberger Kreisheimatpfleger, hat diese frühe Bewegung hinaus aufs Land dokumentiert.

Auf die finanzstarken Bauherren folgten im 19. Jahrhundert die Touristen. Beide gibt es heute noch in der gesamten Region, in Starnberg wie in Dachau. Und die Geschichte ist ironisch genug, dass - Vergangenheit hin, Image her - die Immobilienpreise in beiden Landkreisen inzwischen annähernd ebenbürtig sind. Nämlich astronomisch, also münchnerisch.

Und die Zukunft der Region? Für die Münchner wird, auf dem Viktualienmarkt und 35 Fahrminuten weiter draußen, das Land in Sicht bleiben. Lebensmittel-Einkäufer und Biergarten-Besucher, Wochenend-Touristen und Eigenheim-Bauer werden das zu schätzen wissen.

Und Literaten natürlich auch. "Land in Sicht" heißt eine jüngst erschienene Anthologie mit Texten von Autoren aus dem Münchner Umland, der Region, dem Speckgürtel. Das Bändchen endet mit dem Text "Landerhebung" des 30-jährigen Gautingers Fridolin Schley. "Die Stadt erlischt. Das Land holt sich sein Kind zurück", lauten die letzten Zeilen. Es ist die München-Apokalypse aus der Perspektive des Umlands.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: