Das Erbe der Ostermarschierer:Der Klang des Protests

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Mit der Gitarre auf der Straße seine Meinung singen: So ging Widerstand vor gar nicht so langer Zeit. Heute gibt es Online-Petitionen, Bürgerforen, Abstimmungen - ein ziemlich vielstimmiger Chor

Von Dominik Hutter

Natürlich sind auch 165 Unterschriften ein Erfolg. Nur eben ein sehr kleiner - bisher zumindest. Seit sechs Wochen buhlt der CSU-Bundestagskandidat Stephan Pilsinger auf der Online-Plattform "Open Petition" um Unterstützer für seine Anti-Nachverdichtungskampagne. Mit dieser will Pilsinger verhindern, dass die Münchner Gartenstädte enger bebaut werden. Ein Politiker bedient sich der Instrumente, die eigentlich für den "normalen" Bürger geschaffen wurden. Der große Aufschrei in Pilsingers Sinne, erkennbar etwa an einem Unterschriftenschub, ist allerdings ausgeblieben. Sei es, weil ein konkretes Projekt fehlt, die Kampagne ist sehr allgemein formuliert. Oder weil sie sich gegen einen Vorstoß der Rathaus-SPD richtet, die lediglich die Möglichkeiten der Bayerischen Bauordnung ausschöpfen will, für die wiederum die CSU-geführte Staatsregierung verantwortlich zeichnet. Vielleicht hat sich das Instrument Online-Petition aber auch schon überholt, bevor es so richtig zur Hochform auflaufen konnte. Im politischen Alltag des Rathauses spielt die Meinungsmaschinerie des Internets jedenfalls keine herausragende Rolle.

Dabei galt die Unterschriftenabgabe auf dem Sofa einst als das politische Beteiligungsmodell der Zukunft. Vor zwei Jahren befand es der Münchner Stadtrat sogar für notwendig, den Umgang mit Online-Petitionen ganz offiziell zu regeln, auf einen Antrag der Grünen hin. Zwar wies das Direktorium darauf hin, dass man nicht voraussagen könne, wie viele Digital-Forderungen künftig an die Stadt herangetragen werden. Die Verwaltung stellte sich aber schon einmal auf signifikante Mehrarbeit ein, wenn Petitionen in den Fachabteilungen bearbeitet und in eine Beschlussvorlage für den Stadtrat gegossen werden müssen. Das Kreisverwaltungsreferat meldete vorsorglich Personalbedarf an.

Tatsächlich haben seitdem nur wenige Online-Petitionen das politische Geschehen nachhaltig beeinflusst. Zu den Erfolgen zählt das auf der Plattform "change.org" formulierte Anliegen, den Schlachthof besser zu kontrollieren. Die rund 88 000 Unterschriften hätten zur Folge gehabt, dass sich mehrere Fraktionen für die Aufstockung des Kontrollpersonals ausgesprochen hätten, berichtet SPD-Stadträtin Bettina Messinger. Da wurde das Rathaus ganz offenkundig von den Bürgern aufgerüttelt. Andere, nach der Unterschriftenzahl sehr erfolgreiche Petitionen wie die für die Zulassung von Stolpersteinen, griffen lediglich eine Debatte auf, die die Politik ohnehin schon längst führte. Das Ergebnis haben die gut 100 000 Unterschriften nicht beeinflusst. Das Rathaus blieb bei seiner Linie.

Sechs Saiten, das Peace-Zeichen: Sängerin Urania Windtänzer beim Münchner Ostermarsch des Jahres 2000. Die Tradition des Protests an Ostern ist groß. (Foto: Andreas Heddergott)

Online eine Petition zu unterschreiben, das ist vielleicht die einfachste, aber bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, in der Kommune als Bürger mitzureden. Der Wille der Münchner zur politischen Beteiligung ist ungebrochen, das zeigt die Resonanz auf offizielle Angebote ebenso wie die immer wiederkehrende Forderung nach mehr Mitsprache. Gut möglich also, dass es inzwischen so viele verschiedene Instrumente gibt, sich politisch zu engagieren, dass die Online-Petition in der Masse untergeht. Denn die Zeiten, in denen man sich mit dem Kreuzchen auf dem Wahlzettel begnügte, sind längst vorbei. Mit den Jahren sind allerdings auch die ganz großen Themen abhanden gekommen, die die Massen mobilisieren. Das aktuelle Themenspektrum ist bunt, man könnte auch sagen: zersplittert. Nicht einmal der Wohnungsmarkt ist wichtig genug, um das eine große Thema zu werden, um das sich alles dreht.

Aktuell geht es auf "Openpetition.de" etwa um den Erhalt des Elisabethmarkts (knapp 300 Unterschriften), die Rettung der Blade-Night (rund 640) oder den Erhalt der Geburtshilfe im Klinikum Neuperlach (fast 1900). Den Elisabethmarkt gibt es auch auf "Change.org" (knapp 7000). In einer 1,5-Millionen-Stadt sind allerdings 7000 oder auch 10 000 Unterschriften noch längst keine beeindruckende Machtdemonstration.

Es sei durchaus möglich, dass die Phase der Online-Petitionen ihren Höhepunkt schon wieder hinter sich habe, sagt Grünen-Fraktionschef Florian Roth, zu dessen politischen Steckenpferden die Bürgerbeteiligung zählt. Das liege allerdings auch daran, dass die Stadtratsmehrheit das Konzept der Grünen verwässert habe. Denn Roth hatte ursprünglich ein Quorum gewollt, das die politische Bedeutung der einzelnen Petition deutlich erhöht hätte. Dies aber hielt die Verwaltung für rechtlich unzulässig, so dass in der Praxis die Zahl der Unterschriften völlig egal ist. Eine genügt. Mit der Folge, dass die Bürgerwünsche inflationär auftreten und damit entwertet werden, kritisiert Roth. Die Online-Petition sei im Rathaus zu einem eher symbolischen Akt geworden, der keine konkreten Folgen habe.

Wenn die Münchner etwas auf die Straße oder zu Versammlungen treibt, dann geht es meist um Einzelnes, ganz aktuelle Projekte bevorzugt vor der eigenen Haustür. Dem Planungsreferat wird regelmäßig die Bude eingerannt, wenn es Bürgerworkshops oder auch Angebote für Bürgergutachten gibt. Selbst Abstraktes wie das noch im planerischen Anfangsstadium befindliche Entwicklungsgebiet im Münchner Nordosten zog in den vergangenen Wochen zahlreiche Interessenten in die frühere Siemens-Kantine an der Richard-Strauss-Straße.

Auch das Instrument des Bürgerentscheids hat die Münchner Politikszene in den vergangenen Monaten aufgewühlt. Zwar liegt die letzte Abstimmung schon einige Jahre zurück, 2013 kippten die Münchner die Olympia-Bewerbung 2022. Die Unterschriftensammlung für bessere Luft wurde aber bereits vom Stadtrat übernommen, bevor das Quorum erreicht war - was zunächst einmal ein Riesenerfolg. Ob es in der Praxis irgendwelche Konsequenzen hat, steht freilich auf einem anderen Blatt. Weniger beliebt ist im Rathaus die Initiative der ÖDP für die schnelle Abschaltung des Kohleblocks im Kraftwerk Nord. Die noch laufende Unterschriftensammlung hält das Thema aber seit langer Zeit am Köcheln.

Es gibt noch mehr Möglichkeiten: die Bürgersprechstunde beim Oberbürgermeister etwa, die Bürgerversammlung, die Bezirksausschüsse oder auch die Mitarbeit in Parteien, Vereinen und Initiativen. Vor allem SPD und Grüne vermelden nach Jahren angeblicher Politikverdrossenheit derzeit stark steigende Mitgliederzahlen.

Den Klassiker unter den Bürgerbeteiligungen aber bietet die Bürgerversammlung, deren Repräsentativität immer wieder in Zweifel gezogen wurde. Besucht werden die Veranstaltungen weiterhin. Die Haidhauser Bürgerversammlung zur zweiten S-Bahn-Stammstrecke musste vor einigen Wochen gar wegen Überfüllung abgesagt werden. Ob der Protest oder doch eher der schlichte Informationsbedarf die Massen angelockt hat, muss offen bleiben.

Doch auch die gute alte Demo hat noch nicht ausgedient - auch wenn es längst nicht mehr so leicht ist wie früher, eine große Zahl an Menschen auf die Straße zu bringen. Das zeigt sich auch am Ostermarsch, der früher Tausende auf die Straßen gezogen hatte. 1988 waren es einmal 12 000, die auf dem Marienplatz zusammen kamen. In den letzten Jahren war der Rahmen eher familiär. An diesem Samstag treffen sich die Aktivisten wieder, um 11 Uhr am Stachus. Selbst Wohlmeinende halten die politische Wirkung dieser Veranstaltung inzwischen für begrenzt und ordnen das alljährliche Ritual einem ganz anderen Bereich zu: der Traditionspflege.

© SZ vom 15.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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