Zum 60. Geburtstag von Norbert Göttler:Der Weltensucher

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Schriftsteller und Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler aus Dachau bekleidet seit 40 Jahren öffentliche Ämter und widmet sich ebenso lange in seiner Publizistik dem Thema Heimat. (Foto: Toni Heigl)

Bezirksheimatpfleger und Schriftsteller Norbert Göttler hat die Erforschung und Zukunft der Heimat zu seinem Lebensthema gemacht

Von Helmut Zeller

Den Bezirksheimatpfleger gibt es nur in Bayern, das Bundesland ist so selbstverliebt, sagen Kritiker, dass es sich sogar ein eigenes Heimatministerium leistet. 2018 hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) auch dem Bund einen Heimatminister geschenkt. Seehofer hat die neue "Abteilung H" in seinem Berliner Ministerium sogleich von jeder "Volkstümelei mit Dirndl und Lederhosen" freigesprochen. Mit Blick auf die bayerischen Wähler aber wandte sich Seehofer gleichzeitig gegen jede Verunglimpfung des Brauchtums. Die Gleichung "Heimat = CSU" geht aber in Bayern schon längst nicht mehr auf. Im Netz wurde nicht wenig gespottet. Wirklich lustig ist das aber alles gar nicht, seitdem die AfD Heimat als politischen Kampfbegriff entdeckt hat und alles vermeintlich Fremde - Flüchtlinge, Migranten - aus der wieder herbeifantasierten deutschen Nation ausschließen will.

Schon deshalb hat Heimatpflege nichts Angestaubtes mehr, wie nordlichternde Spötter noch heute glauben möchten, sie hat auch so gar nichts von Biederkeit an sich, sie steht vielmehr im Zentrum der politischen Auseinandersetzung um die liberale, offene und demokratische Gesellschaft - und mittendrin steht einer wie Norbert Göttler, der sich von Amts wegen seit 2011 um Tradition und Kultur in Oberbayern kümmert. Vor ein paar Wochen sprach er in Berlin auf einer Tagung über neue Ansätze für Heimatvereine. Jetzt sitzt er bei einem Weißbier im Biergarten der Schranne in der Dachauer Altstadt, und sein Lachen fliegt hoch zu den schattigen Kronen der Kastanien. Was ist Heimat? Ein Ort des Abschieds und vielleicht der Wiederkehr nach vielen Jahren? Norbert Göttler lächelt. Seit 40 Jahren bekleidet er öffentliche Ämter, ebenso lange ist er als Publizist, Schriftsteller, Regisseur und Redakteur tätig - und aus allen diesen Perspektiven ist ihm die Heimat "jenseits von Klischees und Nationalismus zum Lebensthema" geworden, wie Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) sagt.

Norbert Göttler ist in einem 1200 Jahre alten Hof in Walpertshofen, einer Ortschaft in der Gemeinde Hebertshausen aufgewachsen. Seit 300 oder auch 400 Jahren bewohnt die Familie Göttler diesen Hof. So einer, möchte man meinen, verfängt sich leicht im Traditionellen und Konservativen. Doch schon als jungen Mann trieb es ihn zum Aufbruch. Zuerst in die Landeshauptstadt zum Studium der Geschichte, Theologie und Philosophie, dann zu einer Regieausbildung bei Hörfunk und Fernsehen des Bayerischen Rundfunks. Von der Heimat spricht Göttler im Plural, sie ist für ihn nichts Festgefügtes und Abgeschottetes, mehr ein Prozess als ein Ort, wie er sagt. "Heimatpflege hat eine Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft." Ein Heimatpfleger dürfe nicht nur erhalten und konservieren. Er müsse auch "den überkommenen Werten neue hinzuzufügen".

Der Berliner Kongress zerfiel in zwei Gruppen: Die Hälfte will den von völkisch nationalen Strömungen belasteten Heimatbegriff nie mehr verwenden. Die andere Hälfte, zu der sich Göttler zählt, will ihn annehmen und vom Rechtspopulismus abgrenzen. Seit vier, fünf Jahren gibt es einen Hype um den Heimatbegriff. "Heimat muss nicht zwangsläufig nationalistisch gedacht werden", sagt Göttler. Er sieht das nüchtern, will den Begriff füllen zum Beispiel mit ökologischen Inhalten. "Es gibt doch einen liberalen, jungen, frischen Umgang mit Heimat", sagt Göttler begeistert.

Als Bezirksheimatpfleger obliegt es ihm, die althergebrachte Kultur Oberbayerns, Sitten und Gebräuche dieses Landstrichs zu fördern. Das tut er selbstredend mit der ihm eigenen Leidenschaft. "Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit die ganze Breite darzustellen." Schon als nebenamtlicher Kreisheimatpfleger (2000 bis 2011) hat Norbert Göttler den Landkreis Dachau kulturell immens bereichert. Auch heute mischt er mit, etwa für die Errichtung eines Industriemuseums auf dem Gelände der ehemaligen MD-Papierfabrik in der Stadt Dachau.

Doch ist auch gewünscht, dass ein Bezirksheimatpfleger etwas Neuem, durchaus auch Frechem den Weg ins kulturelle Leben Oberbayerns bahnt. Dass Norbert Göttler nicht eigens dazu aufgefordert werden muss, das wusste Bezirkstagspräsident Mederer schon vor dessen Wahl. Was hätte man von einem Mann auch anderes erwarten dürfen, der bereits mit 21 Jahren, im Jahr 1980, Amnesty International in Dachau gegründet hat, Gründungsmitglied der Jugendbegegnungsstätte Dachau ist, den Archäologischen Verein ins Leben rief, die Veranstaltungsreihe "Poetischer Herbst", die nun so gar nichts mit Nostalgie zu tun hat.

Vor 30 Jahren begann Norbert Göttler, damals nicht gerade auf Freude stoßend, der Erinnerungsarbeit einen Platz in der Heimatpflege zu geben. Der Bezirk Oberbayern, Träger von bedeutenden psychiatrischen Kliniken, hat 2018 das Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde als Mitherausgeber veröffentlicht. Eine der innovativen Ideen des Bezirksheimatpflegers ist der "Salon Zukunft Heimat" im Kleinen Theater in Haar, dessen Gäste, Historiker und Ärzte, sich mit dem Naziregime und seinen Verbrechen auseinandersetzen. Die Nazivergangenheit der Heimat ist auch Thema von "Leben mit dem Schatten" (2011), seinem persönlichstes Buch, wie Göttler sagt. Er wuchs in unmittelbarer Nähe der KZ-Gedenkstätte auf. Die Erzählungen und Erinnerungen kreisen um den früheren Ort des Terrors. Göttler schildert Opfer, Täter und Mitläufer bis in die eigene Familiengeschichte hinein.

Wer der nostalgischen Heimatbetrachtung Adieu gesagt hat, der gerät zwangsläufig in Konfliktsituationen. Es gab immer wieder regelrechte Shitstorms in den sozialen Medien - doch Norbert Göttler ignoriert sie einfach. Nicht jedermann verkraftet Sätze wie diese: "Heimat ist immer mehr auch die Heimat des anderen, die es gemeinsam zu gestalten gilt." Dadurch würden "manche liebgewonnenen Gewohnheiten aller gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen fragwürdig und mancher Kompromiss nötig". Aber dass ihm angedroht worden wäre, totgeschlagen zu werden, wie das dem Fürstenfeldbrucker Kreisheimatpfleger Toni Drexler einmal geschah, das passierte Göttler noch nie. Über diese Geschichte muss er herzlich lachen.

Man müsse sich offensiv Gedanken machen, wie eine Tradition entstehe und sich philosophisch damit auseinandersetzen, was dazugehöre. Allein schon die unsäglichen Oberbayernklischees, die Göttler gelegentlich schon fuchsen und zur Klischeeforschung veranlasst haben. Oberbayern war seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes Urlaubsziel von Städtern aus dem Norden, die alljährlich in die Sommerfrische zogen. Die Feriengäste verlangten nach Klischees, und weil die Einheimischen rasch merkten, dass sich damit Geld machen lassen konnte, lieferten sie diese Klischees - bis sie sie selbst verinnerlicht hatten.

Aber noch mehr treibt ihn heute die politische Entwicklung um, dass so viele Menschen an der Abbiegung zum totalitären Staat stünden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, die Errungenschaften der Aufklärung, das sieht Norbert Göttler durch den Rechtsruck bedroht. "Die Migrationsfrage wird als Alibi benutzt, um den liberalen, demokratischen Staat zu bekämpfen." Deshalb hat er - nicht als Bezirksheimatpfleger, sondern als Bürger - vor der Landtagswahl 2018 auch einen öffentlichen Brief initiiert und vor den Gefahren von rechts gewarnt. Mehr als 500 Dachauer und Landkreisbürger haben ihn unterschrieben.

Heimatpflege ist für Norbert Göttler natürlich eine politische Aufgabe. Einfach schon deshalb, weil er die Heimat nicht politisch missbrauchen lassen will. Deshalb arbeitet er auch in engem Kontakt mit der Verfassungsschutzbehörde gegen die rechtsradikale Identitäre Bewegung, die Einfluss auf die Heimatpflege gewinnen will. Seinen Ansatz zur Abgrenzung des Heimatbegriffs vom Rechtspopulismus sieht Göttler so: Es geht ihm um die Würde des Nahraums, in dem Menschen etwas verändern können. Nicht als Gegenbegriff zur Globalisierung, die er nicht ablehnt, sondern um auch der Politikverdrossenheit der Menschen entgegen zu wirken. "Ein Spagat", sagt Göttler, aber es sieht fast so aus, als freue er sich über diese schwierige Aufgabe.

Norbert Göttler - und das ist die Grundlage seiner differenzierten Auffassung - betrachtet Heimat nicht nur aus der Innensicht, sondern auch aus der Perspektive des Weltbürgers. Denn er dachte schon immer den Aufbruch, griff über Grenzen hinaus, angetrieben von einer geistigen Unruhe zu sehen und zu erkennen. Er steht auch als Schriftsteller in der Tradition jener Bayern, eines Carl Amery etwa, die das Beste des Landes verkörperten. Norbert Göttler philosophiert über die blinden Bettler von Marrakesch, über Großstadtindianer in Vancouver und die Brücken von Venedig. Ein Reisender, der von seinen Erkundungsfahrten Bilder und Worte zurückbringt, in seiner filmischen Arbeiten unter anderem für die ARD und für 3Sat oder als Autor.

Er schreibt Romane, Lyrik, Sachbücher, Theaterstücke, Hörspiele - eine ungeheure Zahl an Werken, denen die Sparkasse Dachau im November eine Ausstellung widmen wird. Göttler ist Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Wien) und des Münchner Presse-Clubs sowie der Literatenvereinigung "Münchner Turmschreiber" und der KVD Dachau. Seit 2002 hat Göttler Lehraufträge, darunter für Publizistik und kreatives Schreiben an der Hochschule für Philosophie in München oder eine Gastprofessur an der Tulane-Universität in New Orleans.

2008 wurde ihm der Bayerische Poetentaler verliehen. "Norbert Göttler ist ein eminent politischer Autor, keiner, der wegschaut, wenn Unrecht geschieht. Er scheut sich nicht, seinen Lesern reinen Wein einzuschenken, auch wenn dieser nach bitterer Wahrheit schmeckt", schrieb Michael Groißmeier. Göttler bewundert Umberto Eco, dessen Werk kreatives und intellektuelles Potenzial gelungen verschmilzt. "Wissen Sie, warum Umberto Eco 'Im Namen der Rose' geschrieben hat?", fragt er. "Einfach weil er einmal einen Mönch beschreiben wollte."

Aber eine besondere Rolle in Göttlers Leben hat der Dachauer Lyriker und Erzähler Groißmeier gespielt. "Er hat mich zu modernen Formen der Lyrik ermutigt." "Hinter Nebelschleiern zerfällt das Jahr//Jeder Windstoß reißt ein Stück Zeit//von den Bäumen//Saatkrähen, schamanenhaft,//stoßen Verwünschungen aus//die - zu Eis gefroren -,//meine Haut durchschlagen." Da ist sie, die andere, im Gespräch nicht auf den ersten Blick erkennbare Seite Norbert Göttlers - eine Verletzlichkeit, Sensibilität, ein Anflug von Melancholie, die diesem energiestrotzenden, hochgewachsenen Mann eben auch eigen sind. Sonst würde er auch nicht großartige Prosa und Verse zusammenbringen, wie er das nun schon seit vielen Jahren tut - dort, in seinem uralten Hof, in dem der Besucher in allen Zimmern Bücher findet. Norbert Göttler ist ein Bibliophiler, schön gestaltete Bücher, gerne auch Erstausgaben, sammelt er mit großer Liebe.

Oftmals wurde er als Universalist bezeichnet. Aber Göttler sieht die Falle: Ein Universalist interessiere sich für wahnsinnig viele Dinge, müsse aber aufpassen, dass er nicht dilettiere. Ein Spezialist hingegen läuft Gefahr einen beengten Blickwinkel zu haben. Auch diesen Spagat hat er gemeistert. Aber was ist er nun? Als Exlibris hat er ein Motiv des Malers und Holzschnitzers Otto Wirsching, der 1919 in Dachau starb, verwendet. Ein Odelfass auf einem Wagen, aus dem nach hinten Odel raus fließt, der aber von einem geflügelten Pferd gezogen wird - Pegasus. Im übertragenen Sinn ist der Pegasus das Dichterross. "Ich hatte immer das Glück, alle Leidenschaften unter einen Hut zu bringen", sagt Göttler über sich selbst. Das trifft wohl zu.

Nun hat der Wind wieder ein Stück Zeit von den Bäumen gerissen - Norbert Göttler ist 60 Jahre alt geworden. Das quittiert er mit einem fast zaghaften Lächeln, doch keine Sekunde später redet er wieder zupackend von der Zukunft und seinen Aufgaben - die Reise des Weltensuchers aus Walpertshofen ist noch nicht an ihr Ende gelangt.

Aus Anlass seines 60. Geburtstags eröffnet die Sparkasse Dachau in ihrem Haus am Sparkassenplatz 1 in Dachau am 6. November die Ausstellung "Buch und Buchkunst. Dr. Norbert Göttler und seine Künstlerfreunde". Die Ausstellung bietet bis zum 22. November einen Überblick über das vielfältige Werk und künstlerische Schaffen des Bezirksheimatpflegers, Schriftstellers und Filmemachers aus Dachau.

© SZ vom 10.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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