Theater-Projekt:Die Rückeroberung des Todes

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"Don't forget to die" - die Dachauer Regisseurin Karen Breece bricht ein Tabu. Ihr Ensemble aus Schauspielern zwischen 73 und 93 Jahren holt das anonymisierte Sterben hinter den Mauern der Krankenhäuser in das Leben zurück

Von Helmut Zeller, Dachau/München

Fast schon hysterisch reagieren wir auf den Tod. Wie sollte es auch anders sein, da Tod und Sterben doch seit den Sechzigerjahren in den westlichen Industrienationen tabuisiert und aus dem Alltag verdrängt werden. Klar, wer will schon sterben! Und dennoch sterben wir - 2015 gab es in Deutschland 925 200 Sterbefälle. Jene, die nicht einem Unfall oder einer Gewalttat zum Opfer fielen, ereilt ihr Ende zumeist abgeschottet hinter den Mauern von Altenheimen und Krankenhäusern, ein anonymes, technisches Sterben an Apparaten, nicht selten, wie das Pflegepersonal großer Kliniken zu erzählen weiß, ohne die Begleitung nächster Verwandter und nahestehender Menschen. In Kliniken in den USA werden die einsamen Kranken als "stuff patients"bezeichnet.

Die Menschen flüchten den Tod - und damit das Leben. Das meinen die Worte des Dichters Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926): "Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben." Dieser Aphorismus zielt ins Herz des neuen Theaterprojekts "don't forget to die" der deutsch-amerikanischen Regisseurin Karen Breece aus Dachau.

Die Regisseurin - und das war nach ihren jüngsten Theaterprojekten über Flüchtlinge oder die Dachauer Prozesse nicht anders zu erwarten - mutet dem Zuschauer wieder einiges an Selbstreflexion zu, in diesem Fall die schmerzhafte Konfrontation mit dem eigenen Tod. Karen Breece beschreibt ihr Projekt so: "Wenn etwas im Leben gewiss ist, dann der Tod. Man sollte nicht vergessen, sich auch auf dieses letzte Ende vorzubereiten, denn ohne den Tod hätte das Leben kaum einen Sinn. Aber wann wird er kommen? Was kommt danach? Und wie lebt man bis dahin ein erfülltes Leben?"

Diese Fragen, auch der ganze Komplex von Sterbehilfe, Sterbebegleitung und Palliativmedizin sind Gegenstand zum Teil heftiger politischer Debatten. Man kann diese Fragen wissenschaftlich erforschen, aus soziologischer, anthropologischer und psychologischer Sicht Antworten darauf formulieren. Oder man kann wie Karen Breece sich dem Thema über konkrete Menschen nähern.

Fünf Menschen im Alter von 73 bis 93 Jahren suchen nach Möglichkeiten, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Karen Breece gibt ihnen eine Bühne, auf der sie ihre Gefühle und Gedanken nicht nur spielen, sondern leben - bis hin zu bewegenden Szenen, in denen der Zuschauer wie in einem Spiegel seine Angst und seine Hoffnung aufscheinen sieht. Zum Ensemble gehören die Laiendarsteller Livia Hofmann-Buoni (78), Rosemarie Leidenfrost (93), Uta Maaß (88), Christof Ranke (78) und die preisgekrönte Schauspielerin Ursula Werner (73), deren mutiges, offenes und glaubhaftes Spiel - unter anderen in den Münchner Kammerspielen und in Filmproduktionen - in seiner Kompromisslosigkeit auf den Zuschauer befreiend wirkt.

Der medizinische Fortschritt hat viel Gutes bewirkt, Kritiker warnen jedoch vor der Abhängigkeit von der Apparatemedizin. (Foto: Oliver Berg, dpa)

Die Mitarbeit von Laiendarstellern ist ein charakterisierendes Merkmal der Theaterarbeit von Karen Breece. Das war schon in Freilichtaufführungen von "Romeo und Julia" (2009) und "Der zerbrochene Krug" (2010) so, auch in ihren Stücken, die sich mit der Zeitgeschichte Dachaus und seinem NS-Erbe auseinandersetzen, etwa der Inszenierung des KZ-Häftlingsstücks "Die Blutnacht auf dem Schreckenstein" (2012) in der Industriebrache der ehemaligen MD-Papierfabrik.

Die Regisseurin hat über ein Jahr hinweg Gespräche mit alten Menschen über das Sterben geführt und daraus einen Text entwickelt, der sich im Grenzbereich von Erinnerung und Hoffnung, Realität und Fiktion bewegt. Gemeinsam mit den Akteuren inszeniert sie einen Abend, der die tragischen wie komischen Perspektiven des Sterbens erfahrbar macht.

Das Stück knüpft formal an die Inszenierung von "Was wir liebten" an, ein experimentelles Theaterprojekt mit alten Menschen, das mit großem Erfolg 2013 in der Erlöserkirche München-Schwabing aufgeführt wurde. (Rosemarie Leidenfrost und Uta Maaß spielten damals mit.) Zwischen Performance, Schauspiel und biografischer Erzählung sprechen die Schauspieler über ihre persönlichen Ängste, Wünsche und Hoffnungen, singen Lieder ihrer Zeit und spielen unterschiedliche Varianten des Sterbens durch.

"Aber kann man den eigenen Tod proben so wie man die eigene Beerdigung plant?" Karen Breece hat sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt - und darauf mit ihrem Ensemble eine Antwort gefunden: Es geht um ein Sterben in Würde, das nicht irgendwann, sondern schon im vollen Leben beginnt, untrennbar zu ihm gehört. Aber in den modernen Industriegesellschaften ist der Tod das große Tabu. Das ist gewollt. Denn nur das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit versetzt den Menschen in die Lage, zum Subjekt seiner Existenz zu werden, seinem Leben so viel Sinn wie nur möglich zu geben - gegen gesellschaftliche Konventionen und politische Bevormundung.

Das aktuelle Stück von Karen Breece, die 2011 auf Einladung des niederländischen Intendanten und Regisseurs Johan Simons an mehreren Projekten für die Münchner Kammerspiele wie "Die Perser" mitwirkte, ist eine konsequente Fortsetzung ihrer Theaterarbeit. Sie schreibt und inszeniert Stücke, die sie auf der Basis intensiver Recherchearbeit und persönlicher Gespräche entwickelt, so auch in ihrem "Welcome To Paradise", ein Theaterprojekt zur aktuellen Asylpolitik, für das sie monatelang Gespräche mit Flüchtlingen und Beamten der Ausländerbehörden geführt hatte.

Die Arbeit der Regisseurin zeichnet sich durch kühne, experimentelle Inszenierungen aus und rückt programmatisch in die Nähe der "Schaubühne als einer moralischen Anstalt", wie Friedrich Schiller ausgehend von den Idealen der Aufklärung es formuliert hat. Es ist die moderne Umsetzung der Forderung nach Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit - die gerade im Sterben und im Tod des heutigen Menschen mit allen negativen Folgen für sein Leben wirkt. Eine gewisse Verwandtschaft sticht auch mit Augusto Boals Theater der Unterdrückten ins Auge, das auf der Bühne Kunst und Selbsterfahrung kombiniert und soziale wie kommunikativen Ressourcen weckt.

Das mag anstrengend klingen, ist es aber nicht; allenfalls für jene, die meinen, das Leben sei ein Werbespot im Fernsehen - und der Konsum Ziel menschlicher Existenz. Die anderen werden nachdenklich aber auch mit einem befreienden Lachen das Theater verlassen, denn sie haben teilgehabt, an dem Versuch der Rückeroberung des Todes durch den Menschen. Ein Stück, das Kopf und Herz des Zuschauers aufbricht, und sein Leben - vielleicht - verändern kann.

Premiere ist am 26. Januar, um 19 Uhr, im Theater HochX in München in der Entenbachstraße 37. Weitere Aufführungen jeweils um 19 Uhr am 28. und 31. Januar sowie am 2. und 4. Februar. Die Karten kosten 18, ermäßigt zehn Euro, der Vorverkauf im Theater HochX und bei München Ticket läuft bereits.

© SZ vom 05.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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