Scheidender Leiter des Kreisjugendamtes:"Unsere Kosten sind Investitionen"

Lesezeit: 5 min

Ulrich Wamprechtshammer erklärt, warum der Etat ständig steigt und weshalb er "froh und glücklich" ist, dass viele Familien die Scham verlieren, Hilfe zu beanspruchen

Interview von Wolfgang Eitler

Von Januar 2007 bis 29. Februar 2016 war Ulrich Wamprechtshammer Leiter des Kreisjugendamts im Landkreis Dachau. Eigentlich müsste er es sehr bedauern, in eine führende Position der Personalabteilung des Landratsamts hinüber ins alte Gebäude zu wechseln. Denn im neuen Komplex der Sparkasse am Bürgermeister-Zauner-Ring residiert es sich sichtlich komfortabler. Aber er wollte die berufliche Veränderung. Im Gespräch mit der SZ zieht er Bilanz. Nachfolgerin Steffi Weinhold ist mit dabei, hält sich aber zurück. Sie sagt: "Ich sauge das alles erst mal auf." Wamprechtshammer skizziert die veränderten Aufgaben der Jugendhilfe, die sehr viel mit überlasteten Familien und Doppelverdienertum im Ballungsraum zu tun haben.

SZ: In den Mordfall von Mitte Januar wären zwei Kinder verwickelt gewesen, wenn das Jugendamt sie nicht ein Jahr zuvor aus der Familie genommen hätte. Die Frau wurde erstochen. Was können Sie zu dem Fall sagen?

Ulrich Wamprechtshammer: Sie erlauben mir, dass ich aus Gründen des Datenschutzes nur grundsätzlich antworte. Unser Ziel ist es immer, Kinder so zu unterstützen, dass sie in der Familie gut aufwachsen können. Wenn das nicht gelingt, wenn das Wohl von Kindern in Gefahr ist, ist es unsere Pflicht, das Familiengericht anzurufen. Sieht auch das Gericht eine Gefährdung, werden wir gemeinsam versuchen, die Eltern davon zu überzeugen, unsere Unterstützung anzunehmen. In letzter Konsequenz kann das Familiengericht anordnen, dass Kinder Eltern weggenommen werden.

In der medialen Wirkung ist dieser Aufgabenbereich der maßgebliche.

Wir haben wie die Polizei einen doppelten Auftrag. Wir sind Unterstützer, aber auch Schützer des Kindeswohls, auch gegen den Willen der Eltern. Das ist unser Doppelmandat, das uns auszeichnet. In der öffentlichen Wahrnehmung wird der Schutzauftrag besonders nach außen gestellt. Ich sage dazu: leider.

Warum?

Die meisten Eltern, die zu uns kommen, merken, dass wir nicht danach trachten, ihnen die Kinder wegzunehmen, sondern sie als Eltern zu unterstützen.

Das Ideal von der Großfamilie, dargestellt an einem Fenster des Bundesfamilienministeriums. Im Ballungsraum München ist es wohl nicht mehr üblich. (Foto: dpa)

Der Schutzauftrag ist zwar wichtig. Aber in der täglichen Praxis ist der Betreuungsauftrag der wesentlich wichtigere?

Er ist der entscheidendere. Eltern sind für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich. Wir sind dafür da, wenn Sand ins Getriebe gekommen ist.

Wie kommen Sie zu Ihren Fällen?

Zum einen gibt es Familien, die in großer Not sind. Glücklicherweise überwinden diese Familien meistens ihre Scham und wenden sich an uns. Ein Gutteil kommt über die Schule, die Eltern rät, sich beraten zu lassen. Außerdem melden sich Polizei oder auch Nachbarn bei uns, wenn der Verdacht besteht, dass Kinder gefährdet sind.

Die Zahl der Jugendhilfefälle steigt enorm, wie an den Daten des Etats für das Jahr 2016 abzulesen ist. Hat die Scham abgenommen? Oder sind zusehends mehr Familien auf Hilfe angewiesen?

Mittlerweile wird das Jugendamt als Unterstützungsbehörde erfahren. Das macht uns froh und glücklich. Früher war es doch eher ehrenrührig, wenn es hieß, dass eine Familie mit uns zu tun hat. Unser Ziel muss sein, so früh wie möglich helfen zu können. Nehmen Sie die Jugendsozialarbeit an Schulen. Fachleute sind an den Schulen vor Ort und bekommen Konflikte unmittelbar mit.

Der Verdacht besteht doch trotzdem, dass sich an den Daten des Jugendamts ablesen lassen könnte, dass die Probleme in den Familien stark zunehmen .

Wenn ich mir die Kosten der Jugendämter in Bayern anschaue, ist es so, dass in den Ballungsräumen die Kosten am höchsten sind. Diese Stellungnahme ist kein Werturteil. Es ist nur so, dass die Vorbildwirkung in Großfamilien oder in Familien, die regional zusammengelebt und gewirkt haben, nicht mehr gegeben ist. Der moderne Mensch ist beruflich mobil, er zieht in unseren Landkreis, meist ohne den Support von Oma und Opa im Hintergrund.

Abschied und Begrüßung: Ulrich Wamprechtshammer (links) wechselt in die Personalabteilung, seine Nachfolge übernimmt Steffi Weinhold. (Foto: oh)

Sie wollen sagen, dass die Familien heutzutage, allein auf sich gestellt, hohen Belastungen ausgesetzt sind?

Durch die Situation moderner Familien leistet die Jugendhilfe heute sicherlich Unterstützungsaufgaben, die früher im Familienverbund abgedeckt wurden. Junge Mütter lernten früher in der Großfamilie am Modell. Junge Mütter heute, die in den Großraum München ziehen und im Hintergrund niemand haben, sind aufgrund des Zuschnitts der Gesellschaft auf Beratung angewiesen. Es ging ein Gutteil an Erfahrungswissen verloren.

Sie skizzieren Großfamilien aus einer ländlichen Perspektive. Do ch in den Städten gab es schon vor 150 Jahren keine mehr.

Das ist richtig. Ich wollte den Sachverhalt etwas zugespitzt formulieren. Aber allein wenn verschiedene Generationen im Umgriff einer Stadt gelebt haben, gab es Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung. Wenn eine Firma nach München übersiedelt, dann müssen Familien mit. Vater, Mutter und Kind sind dann ohne Unterstützung.

Irgendwann kann eine solche Kleinfamilie überlastet sein?

Das ist so. Wenn der Druck auf den Menschen so stark lastet wie bei uns - nehmen Sie das Thema Mietpreise -, wenn der Druck zum Doppelverdienertum immer stärker wird, dann müssen solche Anforderungen Auswirkungen auf Familie und Erziehung haben. Sie bleiben nicht aus.

Sind Sie ein konservativer Kulturkritiker?

Ich verweigere die Aussage ( Lachen).

SZ-Grafik (Foto: SZ-Grafik)

War es früher besser oder nur anders?

Der Blick zurück ist müßig. Die zentrale Frage lautet: Wo und wie können wir frühzeitig helfen? Und damit effektiv unterstützen. Eines soll die Jugendhilfe nicht sein: ein dauerhafter Begleiter. Wenn es eine kleine Phase der Begleitung wird, sind wir sehr froh und glücklich.

Sie waren neun Jahre lang Leiter des Kreisjugendamts. Bisher haben sie zwei Mal gesagt, dass sie "froh und glücklich" über die Entwicklung ihrer Behörde zur Betreuungsbehörde für Familien sind. Welche Wünsche sind noch offen?

Ich denke, der Bereich der Schulen ist für uns ein sehr wichtiger. Der Gedanke der Inklusion ist hier ein zentraler. Die Schule muss zu den Kindern passen und nicht die Kinder zu der Schule. Ohne mit dem Finger auf das System Schule zeigen zu wollen, glaube ich, dass es Möglichkeiten gäbe, dass sich Kinder und Jugendliche darin gut bewegen können.

Geben Sie doch bitte ein Beispiel.

Wie die Jugendämter haben auch die Schulen mit großen Herausforderungen zu kämpfen. Die Situation hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert - hierfür braucht es strukturelle Antworten. Jugendsozialarbeit an Schulen, die im Moment an allen Stellen vehement gefordert wird, kann diese Herausforderungen alleine nicht lösen. Die Aufgabe der Jugendsozialarbeit liegt nicht darin, Erziehungsaufgaben der Schule zu übernehmen, sie ist eine Außenstelle des Jugendamtes an der Schule. So können wir Eltern frühzeitig unterstützen und so möglicherweise die Heimunterbringungen von morgen verhindern.

Die Prävention als neues Aufgabenfeld?

Es ist eine sekundäre Prävention. Wenn Probleme auftauchen, dann darf man nicht aus falsch verstandenem Kostenbewusstsein die Augen verschließen. Man muss stattdessen die Maßnahmen ergreifen, die angemessen und treffsicher sind. Solche frühzeitigen Lösungsversuche sind sicher die günstigsten. Denn sie helfen Familien, intakt zu bleiben oder es wieder zu werden. Ein Kind in einem Heim unterzubringen ist weder menschlich noch finanziell das Mittel der Wahl.

Wie hat sich Ihre Tätigkeit in den vergangenen fast neun Jahren verändert?

Die Arbeit ist vielschichtiger geworden. Dazu brauchen wir ein Angebotsrepertoire. Wenn die Zahnräder ineinandergreifen, dann haben die Familien einen Mehrwert davon, dann haben wir eine guten Job gemacht.

Und was sagen Sie dem Kreistag zu den steigenden Kosten und dem immer größer werdenden Etat der Jugendhilfe?

Unsere Kosten sind Investitionen in die Zukunft. Denn sie unterstützen das, was die Gesellschaft im Kern zusammenhält: die Familie.

© SZ vom 05.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: