Präsidentin des BLLV:"Zwei Krisen prallen aufeinander"

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Für den Schulstart im September gibt es noch kein festes Szenario. Simone Fleischmann über digitales Lernen, Personalmangel und die Lehren aus Corona

Interview von Franziska Langhammer

Ratschen geht nicht mehr, dafür muss jeder Klogang gemeldet werden: Auch der Schulalltag hat sich durch Corona massiv verändert. Von September an sollen wieder alle Kinder in die Schule gehen, Einschulungen sollen stattfinden, aber ein einheitliches Szenario dafür gibt es noch nicht. Wieso Corona wie ein Brennglas wirkt und was wir aus den vergangenen Monaten lernen können, erzählt Simone Fleischmann im Interview mit der SZ. Sie ist seit fünf Jahren Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV), früher war sie Leiterin der Anni-Pickert-Grund- und Mittelschule in Poing (Landkreis Ebersberg).

SZ: Sitznachbarn, gemeinsame Pausen, einheitlicher Unterricht - hätten Sie sich vorstellen können, dass es diesen Schulalltag einmal nicht mehr gibt?

Simone Fleischmann: Früher ging es um Rangeleien auf dem Pausenhof, Ratschen mit dem Nachbarn. Jetzt haben wir etwas, was wir aus früheren Zeiten kennen. Man soll kerzengerade alleine sitzen, dem Lehrer vorne zuhören, sich nicht nach links oder rechts umdrehen. Für mich ist dieser Schulalltag undenkbar. Als Lehrerin habe ich viel kommunikativ-aktiven Unterricht gemacht. Problematisch für mich wäre auch, nicht zu den Schülern hingehen zu dürfen. Auch Jugendliche brauchen Nähe, und wenn es nur mal eine Hand auf der Schulter ist und der Zuspruch: Das schaffst du. Und für Kinder, die Schule anders gewohnt waren, ist das eine immense Umstellung.

Was ist momentan am schwierigsten durchzusetzen in der Schule?

Die Einhaltung von Hygienemaßnahmen, Abstand und Maskenpflicht - das als Regel aufzustellen und als Ritual in der Schule durchzuziehen, Grenzüberschreitungen zu ahnden, das ist schon eine Nummer. Und wir erleben auch, dass es Jugendliche gibt, die einfach mal dem anderen auf den Tisch spucken und damit demonstrieren, dass das hier alles gerade doch einfach lächerlich ist. Das ist typisch Jugendliche, das muss man auch irgendwie akzeptieren. Da gibt es große Probleme, eine Reglementierung permanent durchzuziehen. Die Kleinen finden das wiederum sehr spannend, sind päpstlicher als der Papst. Wenn sich einer einen Millimeter aus dem Stuhl erhebt, heißt es da gleich: Wo ist deine Maske? Kleine wollen die neuen Regeln ganz besonders eingehalten haben und sind oftmals schärfer unterwegs als die Lehrer.

Und für die Lehrer?

Da ist die größte Herausforderung die Dreigleisigkeit, die wir alle vorher nicht kannten. Zum einen in der Notbetreuung als Lehrer zu arbeiten: Das ist nicht unsere Profession, wir sind Pädagogen, keine Betreuer. Zum anderen das Lernen zu Hause digital zu coachen, das waren wir auch nicht gewohnt. Außerdem Live-Unterricht zu halten mit der halben Klassenstärke, mit Einzelbänken und in nicht kommunikativer Umgebung. Alles drei auf einmal, gepaart mit dem Lehrermangel im Grund-, Mittel- und Förderschulbereich, der sich gewaschen hat, ist eine Grenzerfahrung für uns - die Kinder und auch die Eltern erleben das oftmals als ungut.

Was ist mit dem Schulstoff, der in den vergangenen Monaten nicht vermittelt werden konnte - kann der nachgeholt werden?

Dazu muss man vorwegnehmen: Wir haben auch sonst nicht immer beispielsweise in allen dritten Klassen bei allen Kindern denselben Lernstand gehabt, und jetzt ist das noch viel weniger so. Corona wirkt da wie ein Brennglas. Wer zählt zu den Bildungsverlierern zu Corona-Zeiten? Derjenige, der kein Endgerät hatte. Der auf dem Dorf lebt, wo das Wlan nicht so optimal läuft. Der, der Eltern hat, die sich nicht kümmern konnten. Und derjenige, der nicht die Kompetenz hatte, eigenständig zu lernen.

Sind diese Schüler jetzt ganz abgehängt?

Momentan haben wir noch eine Chance dadurch, dass wir halbe Klassenstärken haben - gleichzeitig aber auch nur die halbe Zeit. Im September kommt noch verschärfend der Lehrermangel dazu. Den gab es schon vor Corona, jetzt fallen auch noch die Risikogruppen als Lehrkräfte weg. Das sind zwischen zehn und 30 Prozent, je nach Schulart und Standort. Wenn wir genügend Lehrer hätten, könnten wir individuell fördern, differenzieren, in Kleingruppen genau das nachholen, was das Kind verpasst hat. Das können wir momentan nicht, weil wir eben gerade dreigleisig unterwegs sind. Und im September haben wir das Problem noch mal mehr. Die Frage ist: Wer holt beim einzelnen Kind das fehlende Kompetenzniveau rein? Das wird die Aufgabe sein, welche das Kultusministerium in den nächsten Monaten zu lösen hat. Ich bin gespannt wie!

Werden viele die Klasse wiederholen müssen?

Nein, es fällt keiner durch wegen Corona. Wir nehmen alle mit. Aber um das längerfristig gewährleisten zu können beziehungsweise kein Kind längerfristig abzuhängen, bräuchte es als Antwort vom Kultusministerium: Personal zur individuellen Förderung.

Von September an soll es ja wieder etwas normaler werden im Schulbetrieb. Was wird trotzdem anders sein als sonst?

Wir werden Kinder haben, die - wie wir alle - in einem psychisch anderen Zustand sind. Corona verändert unser Lebens- und Sicherheitsgefühl. Wir haben womöglich auch organisatorische Probleme, wenn weiterhin die Klassen zweigeteilt und teils in der Schule, teils von zuhause aus unterrichtet werden. Das wirft die Frage nach den Räumlichkeiten auf, denn da haben wir jetzt schon Engpässe. Im September erwarten uns große Herausforderungen, weil wir aktuell noch nicht wissen, welches Szenario gezogen wird. Eines ist aber klar: Zwei Krisen prallen knallhart aufeinander!

Die Aufgaben der Lehrer sind in den letzten Monaten andere geworden. Haben Sie schon Feedback, wie es ihnen geht?

Wie in allen anderen Berufssparten haben wir auch Lehrer, die jetzt alles geben. Wir haben auch Kollegen, die vielleicht auf Grund ihrer Fächer und ihres Einsatzes mit ihren Aufgaben gut zurecht kommen. Es gibt leider auch die Meinung von Seiten der Eltern und der Gesellschaft, dass viele Lehrer faul im Garten liegen. Dieses Lehrer-Bashing spüren wir jetzt vermehrt. Eltern beschweren sich, dass Kinder zu viele Arbeitsblätter bekommen haben, jedoch gar nichts korrigiert wurde, oder dass zu viele Videokonferenzen stattfinden. Dieses Feedback ist jetzt ziemlich präsent, weil die Eltern auch viel näher dran sind.

Wird etwas aus den neuen Unterrichtsformen der vergangenen Monate weiter beibehalten werden?

Hoffentlich. Die Forderung, digitales Lernen in die Schule zu integrieren, gab es schon vor Corona vom BLLV sehr laut. Kürzlich hat Ministerpräsident Söder sehr deutlich gesagt: Die 1,1 Milliarden Euro, die für die Digitalisierung in Bayern zur Verfügung stehen, sind nicht abgerufen. Die kommunalen Sachaufwandsträger müssen jetzt investieren. Wir brauchen die Endgeräte, die Software, die IT-Experten. Wir dürfen das nicht weiter verpennen. Unser Slogan ist: Je mehr Unterricht live, desto besser. Es ist in der Zukunft dringend notwendig, nicht das eine gegen das andere auszuspielen. Flipped Classroom etwa - also zuerst das Lernen und Ausprobieren zuhause und danach das Besprechen in der Schule - war vor Corona ein spannender Begriff, von dem die wenigsten wussten, was das sein soll. Viele machen das jetzt sehr effektiv. Ich hoffe, dass wir das nicht alles wieder in die Isar kippen. Was positiv gelernt wurde, soll unbedingt weitergetragen werden. Gesellschaftspolitisch haben wir daraus gelernt: Was ist eigentlich Auftrag von Schule?

Und was ist der Auftrag von Schule?

Diese Frage haben mir in den letzten Monaten so viele Menschen gestellt wie noch nie. Diese Frage kann nicht der Kultusminister beantworten, sondern das müssen wir als Lehrer, Eltern und alle in der Gesellschaft tun. Es hat auch gezeigt: Ganzheitliche Bildung ist aktueller denn je. Wir müssen alles das aufnehmen, was die Gesellschaft derzeit diskutiert, was Schule jetzt leisten muss. Der Kern ist: Was haben wir in Corona gespürt? Wer war Bildungssieger? Derjenige, der selbständig lernen konnte. Vielleicht können wir mit dem bulimischen Lernen irgendwann mal aufhören.

© SZ vom 15.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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