Mitten in der S-Bahn:Doppelte Verspätung

Pendeln wird richtig spannend, wenn nicht nur der Pendler zu spät kommt, sondern auch der Zug

Kolumne von Carolin Fries

Wer ist eigentlich ärmer dran: Der Pendler, der auf seine verspätete S-Bahn warten muss, oder der Zugführer, der sie lenkt? Man tendiert automatisch zum Pendler, der am Bahnsteig friert, doch wer weiß: Vielleicht ist auch der Lokführer zu bedauern, der gar nichts für die Verzögerung kann und dauernd Überstunden machen muss. Jedenfalls hat es einen Grund, dass die Türen zu den Fahrerkabinen stets verschlossen und verspiegelt sind. Zwar dürften diese Fragen so niemals auch nur ansatzweise geklärt werden können, doch es bleibt schön friedlich in der Bahn.

Mit dem Frieden ist es allerdings leicht einmal vorbei, wenn sowohl der Pendler als auch der Zug zu spät dran sind. Dafür hat der Lokführer kein Verständnis. Über Lautsprecher schimpft er den Mann, der sich in letzter Sekunde noch durch die sich schon wieder schließenden Türen gequetscht hatte. Fazit dieser Standpauke aus der Fahrerkabine: Wegen derlei Aktionen könne die Bahn gar nicht pünktlich sein. Der Pendler an sich ist also immer selbst schuld, wenn er am Bahnhof warten muss.

Die Türen schließen, der Zug setzt sich in Bewegung. Die meisten Fahrgäste rollen mit den Augen, atmen schwer durch oder reagieren gar nicht. Lediglich der gehetzte Pendler schnauft und grinst. Ja, er werde sich bessern und versuchen, künftig wieder rechtzeitig im Büro Schluss zu machen, bekennt er reumütig. Wenn die Bahn Pünktlichkeit für Pünktlichkeit verlange, so solle sie diese bekommen. Jetzt grinst auch der Mann, der daneben am Fenster sitzt: "Der ist neu in der Stadt", flüstert er in Richtung seines Sitznachbarn.

© SZ vom 21.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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