Mitten in Dachau:Tourist in der eigenen Stadt

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Der Alltag kann ein Miesepeter sein. Da braucht es manchmal einen Anstoß von außen, um Vertrautes neu zu entdecken. Zum Beispiel am Dachauer Bahnhof

Von Sebastian Jannasch

Der Alltag kann ein Miesepeter sein. Der Bus kommt zu spät, der Metzger hat schon zu, die Parkplätze in der Altstadt fehlen. Diese Ärgernisse verhageln die Stimmung, der Blick für die Schönheit der eigenen Umgebung fällt ihnen zum Opfer. In blinder Routine würdigen viele Dachauer zum Beispiel die atemberaubende Kulisse des Schlosses keines Blickes mehr, auch die grazile Anmut des Kirchturms St. Jakob lässt sie kalt.

Da braucht es schon einen Anstoß von außen, um Vertrautes neu zu entdecken. Am besten fängt man damit auf dem Dachauer Bahnsteig an. Die Wahl des Ortes erschließt sich nicht sofort. Doch spielt sich dort täglich ein Spektakel ab, dass stolzen Einwohnern der Großen Kreisstadt die Brust schwellen lässt und trüben Geistern gute Laune einflößt. Morgens spuckt die S-Bahn aus München unzählige Touristen aus - die mit gutem Beispiel vorangehen. Sie stimmen kein Jammerlied über fehlende Toiletten, kaputte Anzeigetafeln und den penetranten Geruch in der Unterführung an. Sie nehmen sich mit erlebnishungrigen Augen der Besuchsdestination an. Dabei wird selbst das unauffälligste Detail zum aufregenden Fotomotiv. So lässt sich beobachten, dass Besucher, kaum sind sie der Bahn entstiegen, sich begeistert unter dem Schild postieren, das in weißer Schrift auf blauem Grund den Stationsnamen "Dachau" zeigt. Dann knipsen sie sich gegenseitig in allen erdenklichen Posen. Damit auch jeder Einzelne später ein Erinnerungsbild an diesen denkwürdigen Ort in die Vitrine stellen kann, wechseln die Touristen den Fotografen so lange durch, bis alle Konstellationen der Reiseteilnehmer erfasst wurden. Mag das auf den Einheimischen zunächst befremdlich wirken, sollte er es eher als Inspiration verstehen, einmal mit offenen Augen Tourist in der eigenen Stadt zu sein. Die Dachauer haben den Vorteil, dass sie nicht erst um die Erde reisen müssen, um festzustellen, dass es zu Hause doch am schönsten ist. Die Welt kommt zu ihnen und zeigt es ihnen auf ihre Weise.

© SZ vom 28.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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