Mitten in Dachau:Singen gegen den Wahnsinn

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Oder was macht man mit verrückten Nachrichten?

Von Gregor Schiegl

An diesem Mittwoch hat die Dachauer SZ-Redaktion wieder eine verzweifelte Mail erreicht. "Ich bin total geschwollen, weil das Giftgas von dem japanischen Geheimdienst und den Mafias aus China, aus Türkei, aus Russland, aus Indien, aus Griechenland, aus Italien und so weiter vor allem mich ändern soll, um zu beweisen, dass ich gar nicht ich bin!" Der seltsame Hilferuf wurde auch an die russische Botschaft gemailt, an die Bundeswehr, den Oberbürgermeister von Wiesbaden und die Gartenbauabteilung der Stadt München. Die Absenderin, die glaubt, Angela Merkel und alle anderen wichtigen Personen dieses Landes seien durch Doubles ersetzt worden, sang während der Mordattacke elf Minuten lang. "In dem Giftgas konnte ich nicht schön singen", schreibt sie. Aber sie hat überlebt.

Man kann das ulkig finden oder traurig oder beides. Solche Menschen brauchen wirklich Hilfe, aber Journalisten taugen nicht als Therapeuten, und weil in einer Redaktion Tag für Tag viele, sehr viele Mails eintrudeln, ist es unvermeidlich, manche Absender zu blocken: die PR-Agentur aus Sonstwowedel, die angebliche nigerianische Millionärswitwe, die wieder mal Hilfe braucht, um an ihr Vermögen zu kommen und die vielen Verrückten, die gerne mal ein bisschen Aufmerksamkeit bekämen, und sei es auch nur die eines begrenzten Publikums zwischen Hilgertshausen und Karlsfeld. Seltsamerweise schaffen es ausgerechnet die Durchgeknalltesten immer wieder, in den E-Mail-Eingang vorzudringen. Spam kann man blocken. Wahnsinn offenbar nicht.

Seit Jahren treffen auch immer wieder handschriftlich verfasste Faxe eines älteren Herrn in der Redaktion ein, die irgendwo zwischen Tagebucheintrag, Amtsschreiben und dadaistischer Literatur oszillieren. "Genosse General. Wir waren das nicht, weder der Franz noch ich." Im Gegensatz zu Mails verbrauchen Faxe Papier, das ist ärgerlich. Und auch nach Hunderten von Seiten weiß man immer noch nicht, was diese gequälte Seele eigentlich treibt. Und sie sendet und sendet. Ein Schweizer Esoterik-Verein, der uns seit Jahren gnadenlos mit seinen Seminarangeboten für Jenseitskontakte und planetare Initiation beballert, liefert leider auch keine Lösung. Wenn es uns zu bunt wird, singen wir einfach, elf Minuten lang. Nicht schön, aber laut.

© SZ vom 05.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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