Mitten in Dachau:Geisterzüge auf der Linie S2

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Warum die Irrläufer des Fahrplans der deutschen Lust am Rätseln und am ungehemmten Ingrimm entgegenkommen

Von Viktoria Großmann

Aus der Mode gekommen ist der Spruch "Sachen gibt's, die gibt's gar nicht". Obwohl immer noch Anlass besteht, wird auch seltener ausgerufen: "Mein lieber Herr Gesangsverein". Nun, Vereine leiden unter Mitglieder- und Bedeutungsschwund und gesungen wird einzeln auf Youtube. Nur noch im Archiv zu finden ist die Redewendung "Eine alte Frau ist kein D-Zug". Was ein D-Zug ist, weiß man seit zwei Generationen nicht mehr, zudem ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, dass rüstige Senioren alles, erst recht Züge der Deutschen Bahn, flott auf dem E-Bike überholen. Die Deutsche Bahn, das zeigt sich an letzterer Wendung, steuert dem Alltagsleben vieles bei, sie bereichert unsere Sprache, da sie uns zwingt, täglich neue Flüche zu erfinden, sie rettet uns über jedes Verlegenheitsschweigen, liefert Gesprächsstoff selbst jenen, die nie einen Waggon von innen sahen. Die Bahn ist ein tägliches Wunder, und jeder ihrer Versuche, uns ihr Verhalten zu erklären, macht sie noch nebulöser.

Beinahe täglich etwa erreicht Nutzer der S-Bahnlinie 2 die Nachricht: "Aus betrieblichen Gründen entfallen heute Nachmittag zusätzlich folgende S-Bahnen des 10-Minuten-Takts der Linie S 2:

S2 München Ost Abfahrt 17:51 Uhr - Dachau Bahnhof Ankunft 18:21 Uhr. S2 Dachau Bahnhof Abfahrt 18:39 Uhr - München Ost Ankunft 19:10 Uhr." Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Fragen: Was sind betriebliche Gründe? Warum heißt etwas Zehn-Minuten-Takt, das nur alle 20 Minuten fährt? Warum entfallen immer genau diese Abfahrzeiten? Wozu in Dreiteufelsnamen stehen sie überhaupt im Fahrplan? Und wer fährt überhaupt jemals um 17.51 Uhr ab Ostbahnhof oder um 18.39 Uhr ab Dachau Bahnhof? Geisterfahrer? Menschen, die sich vor Taktlöchern und Langeweile nicht fürchten? Liebhaber des Risikos? Schön wäre, meldete uns die S-Bahn an, sagen wir, fünf Tagen im Jahr: Heute fahren zusätzlich Züge um 17.51 Uhr ab Ostbahnhof und um 18.39 Uhr ab Dachau Bahnhof. Besondere Tage wären das, Festtage beinahe, Glückstage, an denen alles gelingen kann, an denen alles möglich ist. Doch positive Nachrichten gehören nicht ins PR-Konzept der Deutschen Bahn. Lieber kommt sie der deutschen Lust am Rätseln und am ungehemmten Ingrimm entgegen. Die Geisterzüge und Irrläufer des Fahrplans bedienen diese Lust und erhalten nebenbei alte Sprichwörter: Züge gibt's, die gibt's gar nicht.

© SZ vom 27.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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