Mitten in Dachau:Ein Witz auf 174 Seiten

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Dachau ist eine Zuzugsregion, doch wo sind die Menschen alle? Und wie kann man sie erreichen? Im Telefonbuch stehen sie jedenfalls nicht

Von Gregor Schiegl

Trotz Einflüssen der modernen Literatur, der neuen Sachlichkeit und des Dadaismus gilt das Telefonbuch noch immer als künstlerisch wenig wertvoll. Zu viele Personen, zu wenig Handlung, so lautet der Hauptvorwurf der Literaturkritik. Trotz der narrativen Unentschlossenheit gibt es jedes Jahr ein Remake des Klassikers "Das Örtliche - Für Dachau und Umgebung". Das Werk der Autorenvereinigung DeTeMedien ist kostenlos erhältlich bei der Post und im Hausflur. Wie die meisten Klassiker wird es nur selten gelesen, aber gerne zur Zierde in die Wohnung gestellt.

Jetzt gibt es die neue Ausgabe, und so viel sei jetzt schon verraten: Es müllert und meiert auch im neuesten Band, dass es nur so rumpelt. Im Erzählstrang "Dachau" treten außerdem 38 Hartmanns auf, darunter auch ein Florian. Die Dramaturgie ist gewohnt schwach; das Ende um Andrea Zysk aus Karlsfeld bleibt, wie bereits 2015, offen. Die wahre Enttäuschung ist allerdings der Umfang. Statt 212 Seiten hat die neue Ausgabe nur mehr schlappe 174; selbst "Disney's Lustige Taschenbücher" haben mehr zu bieten. Seufz, ächz. Kopfkratz, Entenhausen schlägt Etzenhausen. Wie gibt es das? Galt Dachau nicht mal als Wachstumsregion? Jedes Jahr müssten Tausende neuer Leute dazu kommen, Leute mit Telefonanschluss. Wo sind die alle hin? Warum liest man nichts mehr von denen? Was verschweigt man uns? War die Zensur am Werk, der Landrat oder gar der türkische Präsident Erdoğan?

Bevor man sich zu sehr in solche Verschwörungstheorien hineinsteigert, sollte man sich lieber fragen: Ist das Druckwerk überhaupt noch zeitgemäß? Etwa die Hälfte der Kunden schmeißt das Telefonbuch sowieso gleich ins Altpapier. Die wichtigen Nummern hat man heute im Smartphone, zur Not schaut man im Internet nach. Dort ist zu lesen, dass Felix Graf von Luckner, Korvettenkapitän aus dem Ersten Weltkrieg und Verfasser dröhnender Seefahrerprosa, ein Telefonbuch mit bloßen Händen zerreißen konnte. Das schaffen wir inzwischen auch. Die Redewendung "dick wie ein Telefonbuch" ist nur mehr ein trauriger Witz. Ach ja, falls Sie jemand suchen, der Sie kitzelt, schlagen Sie nach in den Gelben Seiten: 148 Seiten Lebenshilfe und subtil in Szene gesetzte Kapitalismuskritik.

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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