Der Spaziergang, der als bürgerliche Institution erst im 18. Jahrhundert richtig Fuß gefasst hat, galt bereits als Auslaufmodell. Manche unkten, diese alte, nur noch von melancholischen Literaten oder Rentnern ohne E-Bike gepflegte Kulturtechnik sei in unserer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Durch die Landschaft zu stromern und seinen Gedanken nachzuhängen, ist in der Tat auch reizlos, wenn die Landschaft ein Kartoffelacker ist und es im Kopf aussieht wie in einer Excel-Tabelle.
Doch jetzt feiert das Spazierengehen ein triumphales Comeback. Täglich zwischen 16 und 18 Uhr bewegen sich wahre Völkermassen in Dachau über die Spazierwege an der Amper - und zwar werktags von Montag bis Freitag. Wenn man vom Bad ins Büro nur einmal durch den Flur laufen muss, ist der Bewegungsdrang eben groß, alles ist auf den Beinen, alle stiefeln zur gleichen Zeit los, dahin, wo es sich am schönsten läuft. Das behördlich verordnete Abstandhalten wird so zu einer Herausforderung: Vor einem blockieren zwei Familien mit Hunden den Weg. Die Menschen stehen an den Rändern, doch die Hunde haben ihre Leinen wie ein Absperrband von beiden Seiten bis in die Mitte des Weges gezogen, wo sie ihre unwiderstehlich interessanten Hinterteile beschnuppern. Derweil kommt von hinten ein Jogger angeschnauft, während aus der Seitenstraße ein Kinderwagen anrollt - und es wird immer enger...
Glücklicherweise kann man jetzt im Internet den Schulstoff auffrischen, von dem man früher dachte, den braucht man im Leben nie. Dazu gehört die Analytische Geometrie. Sie macht es möglich, Abstände zwischen zwei Punkten exakt zu berechnen. Vorausgesetzt man weiß, wie man die Differenzvektoren von dynamischen Ortsvektoren wie Vektor Hund₁, Vektor Hund₂, Vektor Jogger und Vektor Kinderwagen ins richtige Verhältnis setzt, ehe es zur kritischen Annäherung kommt. Wem das zu kompliziert ist, der kann einfach mal stehen bleiben und warten. Wer weiß, vielleicht wird Herumstehen bald das neue Spazierengehen.