Mitten in Dachau:Das Rätsel der Bücherzellen

Eine neue Chance für die Lesekultur bietet ein Projekt in Dachau

Kolumne von Johanna Hintermeier

Zwei Schwergewichte haben sich beinah unbemerkt von Verwaltung und Politik als neues Stadtmobiliar in Dachau eingelebt: die neuen sogenannten Bücherzellen am Ernst-Reuter-Platz und am Max-Mannheimer-Platz. Der Initiator und Stadtrat Berkay Kengeroglu staunte nicht schlecht, als er den Bücherschrank zufällig beim Flanieren entdeckte. Die zuständige Firma hatte die ehemaligen Telefonhäuschen Ende April aufgestellt - wann, das weiß auch die Stadtbücherei nicht mehr so genau. Sofort stellt sich eine erfreulich rege Nutzung ein: Dachauer befüllten die Regalbretter der Telefonzelle kurzerhand mit Lesestoff und eröffneten so die Tauschbörse eigenständig.

Das war dem Kulturamt wiederum eine Spur zu partizipativ - eine Kette mit Vorhängeschloss wurde angebracht. Bücher in ihre Zelle gesperrt. Unbenutzt fristen sie vorerst ihr Dasein, denn Amtsleiter Tobias Schneider befürchtete eine - Zitat: "Wildbefüllung". Man warte auf ein abgestimmtes Konzept mit der Stadtbücherei und die offizielle Eröffnung der Schränke, so die Begründung. Das ist verständlich, ein gewisses vielseitiges Inventar ist erstrebenswert, obwohl die jetzige Befüllung eigentlich keinen Wunsch offenlässt: "Italienisch Kochen" aus dem Jahr 1968 steht da zum Beispiel, ein immer noch anerkanntes Standardwerk.

Da wären noch die Bedenken des Dachauer Bibliotheksleiters Steffen Mollnow, pornografische und rechtsextreme Inhalte könnten im Schrank platziert werden. Doch für diesen Fall ist eigentlich vorgesorgt: Der Jugendrat soll die Sichtung der Bücher zumindest vorübergehend übernehmen.

Es bleibt abzuwarten, wie sich das soziale System des Büchertausches in Dachau entwickelt, sobald die Schränke ihre Ketten abgeworfen haben. Das Engagement der Bürger ist jedenfalls vielversprechend. So bekommt Lesekultur gemeinschaftlich eine neue Chance.

© SZ vom 13.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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