Mitten in Dachau:Auf der Flucht vor dem Knirps

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Die kleinen Schirme können heilsame Wegweiser sein, bei Regen dann aber doch in die Irre führen

Kolumne Von Anna-Elisa Jakob

Der Schirm ist das Symbol der Rettung. Vor Regen, vor Sonne und vor ganz und gar wetterunabhängigen Finanzkrisen. Das gängige Alltagsmodell ist der Knirps, einerseits nicht wirklich modisch, andererseits sehr praktisch, im Übrigen eine deutsche Erfindung von 1928.

Und tatsächlich wird ausgerechnet der langweilige Knirps zum Retter in Doppelfunktion: Er leitet Touristen und verhindert, dass sie in der Fremde ihre Weggefährten verlieren, oder im Labyrinth des Dachauer Bahnhofs auf dem Weg zum Bus falsch abbiegen. Denn wer einen Knirps geschlossen in den Himmel reckt, ist in der Regel ein Touristenführer. Doch der Knirps rettet auch die Berufspendler, denen eben von jenen Touristengruppen, die in gelassener Urlaubsstimmung vor sich hintrotten, auf dem Bahnsteig die letzten hektischen Meter zur Bahn versperrt werden. Das geschulte Auge erkennt jene Schirme schon von weitem und gibt sofort ein Signal ans Hirn, das die Beine reflexartig in einem großen Bogen um die langsame Touristengruppe laufen lässt.

Doch jetzt, bei anhaltendem Aprilwetter, ist auf diese sonst so sichere Praxis kein Verlass. Auch ohne Blick aus dem Fenster greift ein Großteil morgens zum Schirm. Sei es, weil Mann oder Frau die Frisur in Gefahr sieht, der Sprenkeleffekt nicht zum Anzug passt oder ein Schirm an grauen Tagen schlichtweg für melancholischen Chic sorgt. Doch wenn statt starkem Regen plötzlich nur leichtes Nieseln oder Tröpfeln auftritt, kommt das Zögern: den Knirps nun aufspannen oder doch in der Hand tragen? Der verunsicherte Zeitgenosse reckt die Hand in die Höhe oder streckt die Handflächen ins Freie. All das passiert genau so in der Bahnhofspassage, hundertfach in die Luft gereckte oder seitwärts ausgestreckte Hände.

Selbstverständlich schafft das große Verwirrung: Für diejenigen, die dem Schirm folgen und für die anderen, die ihm entfliehen. Ein Chaos an Knirpsen, Fluche in verschiedenen Sprachen, nervöses Trippeln neben verlorenem Trotten. Und so eint an Tagen wie diesen alle Beteiligten die mitunter kitschigste aller Wetterfloskeln: Oh, wenn doch nur bald wieder die Sonne scheinen würde.

© SZ vom 07.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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