Landrat:"Wir leben nicht in einem Freilichtmuseum"

Lesezeit: 5 min

Der Siedlungsdruck auf die Kommunen wird das Gesicht des Landkreises Dachau in 30 Jahren völlig verändert haben. Stefan Löwl (CSU) fordert eine neue Finanzierungsgrundlage für die Gemeinden, um die gewaltigen Aufgaben meistern zu können

Interview von Helmut Zeller

Themen wie die Flüchtlingssituation erregen große Aufmerksamkeit. Darüber gerät fast in Vergessenheit, dass Landkreis und Gemeinden vor einer ganz anderen gewaltigen Aufgabe stehen: den zunehmenden Siedlungsdruck auf die Kommunen im Münchner Ballungsraum. Sie müssen eine entsprechende Infrastruktur - Schulen, Kindergärten, Straßen - schaffen und werden damit fast allein gelassen. Mit Landrat Stefan Löwl (CSU) sprach die SZ über die wachsenden Aufgaben der Kommunen und darüber, ob ihre Finanzierungsgrundlage nicht der Entwicklung angepasst werden müsste. Eines ist sicher: Das Dachauer Land wird bald schon sein Gesicht völlig verändert haben.

SZ: Herr Landrat Löwl, wie begegnen die Kommunen den aktuellen Problemen?

Stefan Löwl: Ich spreche lieber von Herausforderungen als von Problemen. Die größte Herausforderung ist der Siedlungsdruck. Der Zuzug wächst rascher, als wir die infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen können. Geld für Straßenbaumaßnahmen, besonders zur Entschärfung von Unfallschwerpunkten, der Busbeschleunigung und den Bau von Radwegen, von Schulen wie dem neuen Gymnasium in Karlsfeld und Kindergärten, das haben wir vielleicht noch, auch dank der Fördermittel. Aber die Kosten für deren personalintensiven Unterhalt haben wir bisher nur gestemmt, weil wir jedes Jahr mehr Steuereinnahmen hatten. Wenn die Einnahmen eines Tages stagnieren oder rückläufig sind, dann bekommen wir Kommunen ganz schnell Probleme.

Die Anlage an der Münchner Straße produziert Wärme und Strom aus Hackschnitzel. Das erfordert aufwendige Technik. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Was also tun?

Auf der Münchner Wohnungsbaukonferenz habe ich zum Beispiel einen Umlandfonds ins Gespräch gebracht. Wenn man etwa die Petershausener Pendler weg von der Straße bringen will - dort bekommt man sicher keinen flächendeckenden ÖPNV bis Pfaffenhofen hin -, dann ist eine Gemeinde wie Petershausen mit 6000 Einwohnern und eines Tages vielleicht mehr als 2000 Parkplätzen vollkommen überlastet. Da braucht es Finanzierungswege, um etwa ein großes Parkhaus zu bauen. Die Frage ist, ob wir das aus eigener Kraft schaffen. Das glaube ich eher nicht.

Was bringt das neue Teilhabegesetz?

Man kann die geplante Leistungs- und Anspruchsausweitung positiv oder negativ sehen. Klar ist jedoch, umgesetzt werden sie von den Bezirken und Landkreisen und über die Kreisumlage letztlich auch von den Gemeinden. Oder gibt man für die Leistungsausweitung, die der Bund 2017 beschließt, dann tatsächlich Mittel direkt in die Kommunen hinein? Dann kommt es zu Verteilungskämpfen, und es wird heißen, Bayern hat doch viel Geld. Das stimmt, aber wir müssen genauso die neuen Aufgaben stemmen und haben zum Teil auch ganz andere Kosten, wir denken hier nur an die Grundstückspreise für kommunale Infrastruktur und erhöhte Aufwendungen für Mietzuschüsse. Und in Bayern gibt es neben den Wachstumsregionen wie München und Umland, Augsburg oder Ingolstadt auch strukturschwache Gebiete.

Die Kommunen klagen doch schon über wachsende Aufgaben. Müsste nicht ihre Finanzierung neu geordnet werden?

Wie schwierig das ist, zeigt die Diskussion beim Länderfinanzausgleich. Das ist auf kommunaler Ebene nicht anders. Natürlich müssen die Kommunen ausreichend finanziert werden. In Bayern geht es uns da noch vergleichsweise gut, auch wenn mal die eine oder andere Gemeinde Schwierigkeiten hat. Das Problem aber ist die strukturelle Unterfinanzierung: Das ungesunde Verhältnis von Investitionen und Unterhalt, etwa von Schulen oder Brücken, zu den Ausgaben für laufende Aufgaben wie Verwaltung mit steigenden Personalkosten, Sozial- und Jugendhilfen sowie sonstige Unterstützungen macht uns das Leben schwer. Wenn man deshalb bei Investitionen sparen muss, dann haben wir tatsächlich ein Problem. Im Endeffekt läuft das auf die Frage zu: Gebe ich mehr Geld ins System hinein, um die laufenden Aufgaben - welche ja größtenteils Ansprüche der Bürger sind - zu bewältigen, oder nehme ich Aufgaben heraus. Seit ein paar Jahren läuft es auf immer mehr und teurere Aufgaben für die Landratsämter zu.

Die zentrale Herausforderung ist also der Siedlungsdruck?

Wir müssen jetzt relativ schnell mehr Geschosswohnungsbau realisieren. Die Wohnungsbaugesellschaft des Landkreises arbeitet an verschiedenen Projekten, hat manches auch schon umgesetzt. In Markt Indersdorf beginnt dieses Jahr mit dem Spatenstich ein neues Projekt, in Karlsfeld wurde eines abgeschlossen und ein weiteres ist in Planung. Auch in Odelzhausen, Vierkirchen und Petershausen gibt es neue Projekte und außerdem sollten auch noch die bisher nicht bei der Wohnungsbaugesellschaft beteiligten Landkreisgemeinden wie Hilgertshausen-Tandern, Sulzemoos und Pfaffenhofen beitreten. Hier laufen bereits Gespräche. Das Problem: Verfügbare Bauflächen finden sich im Landkreis kaum.

Wie viele Sozialwohnungen fehlen?

Seriös kann man das aktuell nicht genau beziffern und es ändert sich auch ständig, weil zum Beispiel noch unklar ist, wie viele anerkannte Asylbewerber hier bleiben werden. Wir erstellen gerade jetzt mit der Caritas Dachau einen Armutsbericht. Der wird wohl Anfang 2017 vorliegen und enthält dann auch eine Schätzung des Wohnbedarfs. Ich meine, allein im sozialen Wohnungsbereich werden wir mehrere hundert Wohnungen im Landkreis brauchen. Karlsfeld und die Stadt Dachau haben hier den massivsten Bedarf; aber auch in anderen Gemeinden wird nicht zuletzt bedingt durch Flüchtlinge mehr bezahlbarer Wohnraum nötig werden. Die vom Landratsamt ausgestellten Wohnberechtigungsscheine alleine sind meines Erachtens sicherlich nicht die ganze Wahrheit.

Noch mehr Verdichtung und Flächenverbrauch. Wird der Landkreis in 30, 50 Jahren sein Gesicht völlig verändert haben?

Wenn Sie vor 20 Jahren durch den Landkreis Dachau gefahren sind, hat er auch anders ausgesehen als heute. Das ist auch eine Folge der technischen Entwicklung. Ich glaube, dass in 20 Jahren zum Beispiel nicht mehr die heutigen Autos fahren werden. Das ist das Thema autonomes oder elektrisches Fahren. Sie werden aber immer noch Straßen brauchen, sicher, aber vielleicht sehen die anders aus, weil irgendwelche Leittechniken eingebaut werden. Auch die Dörfer wandeln sich. Zuzug ist ja kein organisches Wachstum. Wir haben zwar eine hohe Geburtenquote, für Deutschland sogar eine relativ hohe, es ziehen aber vor allem junge Menschen zur Familiengründung aus München raus, oft auch schon mit kleinen Kindern. Da entwickeln sich ganz neue soziale Strukturen. Das ländliche Dorf, wo links und rechts der Hauptstraße Misthaufen und Kuhställe sind, gibt es jetzt schon nicht mehr. In den Ortschaften wird natürlich verdichtet gebaut bei den Preisen, die wir haben. Und wir wollen ja dicht bauen, damit wir Freiräume im Außenbereich erhalten können. Daneben kommen auch noch weitere Menschen zu uns, nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch welche aus anderen Teilen Deutschlands oder aus Europa. Der Charakter wird sich somit spürbar ändern. Aber das ist auch nichts Schlimmes, wenn es mit Maß und Ziel erfolgt. Wir leben ja nicht in einem Freilichtmuseum.

Löwl fordert mehr Geschosswohnungsbau. Auf dem Neufeld-Gelände in Dachau-Ost plant die Stadt 70 Wohnungen. (Foto: Toni Heigl)

Kommen wir zum Armutsbericht.

Es gibt diesmal, da hatten wir im Kreistag Wert drauf gelegt, eine wissenschaftliche Begleitung. Das Thema Altersarmut, die es auch in unserem eigentlich reichen Landkreis gibt, spielt dabei sicherlich eine wachsende Rolle. Und dann das Thema Schulden: Der unkontrollierte Konsum ist zwar eher ein Jugendproblem, aber mit schlimmen, langfristigen Folgen. Der Bericht erfasst auch Armutsrisiken wie Krankheit oder weil jemand alleinerziehend ist. Dazu kommt der soziale Wandel. Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften brechen weg. Früher war die Oma noch da, die heute Gott weiß wo wohnt, oder die Nachbarn. Väter und Mütter müssen und wollen aber oft arbeiten und niemand ist zu Hause. Deshalb brauchen wir Einrichtungen und soziale Projekte für Kinder. Die Sozialausgaben steigen kontinuierlich, nicht weil die Menschen sozial und emotional schlechter als früher wären, sondern weil die Erziehungsmechanismen andere geworden sind. Da gibt es Defizite, und da müssen die Kommunen ran.

Also wieder steigende Ausgaben?

Ja, und dann die Konkurrenz als weiteres Problem.

Welche Konkurrenz?

Divergierende Nutzungsinteressen und Ressourcen: Wir brauchen Zeit, Geld und Flächen, um den Siedlungsdruck aufzufangen. Bei allen Projekten kann ich Ihnen zeigen, dass es immer Personen gibt, die dagegen sind. Erneuerbare Energien, Biogasanlagen, Straßenbauprojekte, selbst ÖPNV-Projekte, Gewerbegebiete - egal welche infrastrukturelle Maßnahmen es sind, es gibt einen massiven Widerstand im Sinne von konkurrierenden Diskussionsansätzen, aber leider oft auch egoistischen Individualinteressen. Es folgen langwierige Verfahren, ein Gutachten, noch ein Gegengutachten, Gerichtsverfahren, und dann schließt sich der Kreis. Ein Projekt wird dadurch viel teurer und braucht viel mehr Zeit. Als Landrat denke ich mir manchmal, warum können wir das eine nicht tun, ohne das andere zuzulassen.

© SZ vom 29.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: