Kommentar:Das Ritual kann mächtig sein

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Das Erinnern an Jahrestagen kann sich mit Teilnehmern, die Anstand haben und ein Herz, gegen jene stemmen, welche die Geschichte vergessen und verunglimpfen wollen

Von Viktoria Großmann

Hat das ritualisierte Gedenken einen Sinn? Diese Wiederkehr derselben Abläufe? In Dachau zuverlässig zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, zur Wiederkehr der Befreiung des Lagers Dachau am 29. April und zur Erinnerung an die Pogromnacht im November 1938. Und zu unzähligen anderen Gelegenheiten. Was soll man jedes Jahr sagen? Das Grauen, das zwischen 1933 und 1945 und besonders in den Lagern zwischen 1942 und 1945 stattgefunden hat, bleibt immer gleich unfassbar. Nie wieder, heißt es dann, nie wieder dürfe sich diese systematische Ausgrenzung, Diffamierung, Verfolgung, schließlich Folter und Ermordung von Millionen Menschen wiederholen. Man legt Kränze nieder, zupft eine Schleife, geht nach Hause, trinkt einen Tee. Alltag.

"Die Demokratie ist brüchiger, als wir lange dachten", sagte Oberbürgermeister Florian Hartmann in seiner Rede zur Begrüßung der Zeitzeugin Ruth Melcer im Dachauer Rathaus. Die 83-Jährige erzählt, wie ihr sechs Jahre alter Bruder mit anderen Kindern aus dem Ghetto von SS-Leuten erschossen wurde. Scham, Mitgefühl, Entsetzen ergreift offensichtlich nicht alle Menschen angesichts solcher Berichte. Eine Dachauer Delegation erlebt am selben Tag beim Gedenken in Auschwitz, dass Respekt und Achtung vor den Opfern der Nationalsozialisten nicht selbstverständlich sind. Man darf nicht aufhören, zu versuchen, die Leugner zu erreichen. Und zu zeigen, dass die Verantwortungsbewussten mehr sind.

Das Erinnern soll das Wiederholen verhindern. Das war immer sein Grundanliegen. Dazu zählt, den Zeitzeugen zuzuhören, so lange es sie noch gibt. Und ihre Erinnerungen weiter zu geben, wenn sie nicht mehr sind. Auch Rituale gehören dazu. Das Ritual funktioniert in einer Welt, die schnelllebig ist und vergesslich. Es kann sich dagegen stemmen, mächtig und trotzig. Wenn sich dazu alle versammeln, die Anstand haben und ein Herz. Gegen die, die nicht verstehen wollen, die verunglimpfen und verhöhnen wollen. Stark ist das Ritual, wo es immer neu gestaltet wird, wo es warmherzig begangen wird, wie es in Dachau am Sonntag gelungen ist. Kein Pathos, keine Parteireden. Die wären fehl am Platz. Zuhören, Anteilnehmen, nicht vergessen, weiter tragen. Jetzt gerade. Gerade jetzt.

© SZ vom 29.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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