Im Wittelsbacher Schloss:Niemals verstummen

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"Violinen der Hoffnung": Amnon und Avshalom Weinstein restaurieren Geigen, die Holocaust-Überlebenden gehörten. Am Sonntag sind acht dieser Instrumente bei einem Konzert in Dachau zu hören

Von Christiane Bracht

Tag für Tag steht er in seiner Werkstatt in Tel Aviv, schleift und schmirgelt an Geigen, spürt feine Risse auf, klebt sie, stabilisiert und unterfüttert die Decke des Instruments, misst die Wölbung nach. Es ist eine feine Arbeit, eine, bei der man genau sein muss und die Zeit kostet - viel Zeit. Doch es ist keine Stradivari, keine Guaneri oder Amati. Amnon Weinstein arbeitet anders als die meisten anderen Geigenbauer nicht nur an sehr hochwertigen Instrumenten, sondern meist an ganz einfachen. Der pekuniäre Wert ist für ihn nicht das wichtigste. Dem 78-Jährigen kommt es vor allem auf die Geschichte der Violinen an.

Vielen Juden haben die Instrumente während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit davor unter der Herrschaft der Nationalsozialisten das Leben gerettet. Sie sind in Ghettos und Konzentrationslagern gespielt worden unter den widrigsten Umständen. Einige sind so ramponiert, dass sie fast schon in mehrere Stücke zerfallen, wenn man nur den Geigenkoffer öffnet. "Die meisten sind es eigentlich nicht mehr wert, repariert zu werden", sagt Weinsteins Sohn Avshalom, der inzwischen auch Geigenbauer ist. Dennoch hat es sich Amnon Weinstein zur Lebensaufgabe gemacht, den Violinen wieder eine Stimme zu geben. In mühevoller Kleinarbeit repariert er sie monate-, manchmal sogar jahrelang. Denn: "Wie kann man die Geschichte ersetzen?", fragt Avshalom. "Und wer erzählt sie weiter?" Auch er ist längst in das Projekt mit dem klangvollen Namen "Violinen der Hoffnung" eingebunden, kümmert sich nicht nur um Risse im Holz, Stege und Stimmstöcke, sondern organisiert seit etwa zehn Jahren Konzerte in aller Welt. Am Sonntag ist Avshalom Weinstein in Dachau zu Gast mit acht Violinen aus der großen Sammlung. Der Vater wäre auch gern gekommen, doch er ist kurz vor dem Abflug krank geworden. Die Violinen seien ein Klangdenkmal, sagte er vor wenigen Tagen. Deshalb dürften sie niemals verstummen.

Die "Villa musica" unter Leitung von Alexander Hülshoff wird die Geigen im Dachauer Schloss erklingen lassen. "Es wird ein besonders emotionales Konzert", da ist sich Hülshoff schon jetzt sicher. Er hat bereits dreimal in ehemaligen Synagogen in Rheinland-Pfalz mit Weinsteins Instrumenten gespielt. Es waren die ersten Konzerte dieser Art in Deutschland. Auch die Berliner Philharmoniker berührten anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor drei Jahren mit den Violinen der Hoffnung ihr Publikum. 10 000 Menschen wollten diesen besonderen Abend erleben, doch viele bekamen keine Karten mehr. Bei dem Konzert in Dachau versprechen sich sowohl Hülshoff als auch Avshalom Weinstein eine noch stärkere Wirkung: Es wird das erste Konzert sein, das an einem historisch so belasteten Ort stattfindet, an dem so viele Menschen getötet worden sind, sagt Avshalom Weinstein.

Wie sehr die Nähe des früheren Konzentrationslagers bewegt, ist vor allem Vater Amnon anzuhören. "Es war schwer, nach Berlin zu kommen", hat er vor wenigen Tagen gesagt, ganz langsam und leise. Dann hat er eine lange Pause gemacht. "Aber nicht so sehr wie nach Dachau." Seine Stimme ist ganz heiser geworden.

Amnon Weinstein hat die Judenverfolgung im Dritten Reich zwar nicht selbst erlebt, er ist in Israel geboren und kennt nur die Geschichten. Aber die Geister der Vergangenheit belasten auch ihn. Von der großen Verwandtschaft, die die Familie einst hatte, ist niemand mehr übrig, nur seine Eltern überlebten, weil sie bereits 1938 aus Vilnius (damals polnisch) nach Palästina flohen. Von den anderen zeugt lediglich ein Fotoalbum.

"Violinen der Hoffnung" (Foto: privat)

"Es ist wichtig, dass wir das tun", hat Amnon Weinstein vor wenigen Tagen mit fester Stimme gesagt. "Damit der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät." Er hat die Fassung wieder gefunden. "So etwas darf nie wieder geschehen." Für den Geigenbauer ist das bevorstehende Konzert sowie das ganze Projekt "Violinen der Hoffnung" aber auch die Fortführung dessen, was sein Vater begonnen hat. Sein Vater Moshe Weinstein war der erste Geigenbauer in Israel. In den Vierzigerjahren kamen sehr viele zu ihm und brachten ihre Violinen, allerdings nicht, um sie reparieren zu lassen. Sie wollten nichts mehr berühren oder auch nur im Haus haben, was in Deutschland gefertigt wurde und an das Land erinnerte, erzählt Amnon Weinstein. "Wenn du sie nicht kaufst, werde ich die Geige zerstören", sagten die Überlebenden oder deren Kinder. Moshe Weinstein kaufte, aber er fasste die Instrumente nicht mehr an. Er sprach auch nie über die Vergangenheit, erinnert sich sein Sohn Amnon.

Und so hingen die Instrumente jahrzehntelang in der Werkstatt, bis ein junger deutscher Bogenmacher kam und viele Fragen stellte. Er forderte Amnon Weinstein auf, einen Vortrag über diese Violinen zu halten auf einer Tagung des Geigenbauverbands. Das war 1998. Amnon Weinstein überlegte lange, willigte schließlich ein. Es folgte ein Interview im Radio und plötzlich kamen von überall her Leute, die ihm ihre Geigen anboten. Geigen mit Geschichte. Die Sammlung wuchs und wuchs. Heute haben die Weinsteins etwa 70 Violinen in ihrer Werkstatt. Auch bei dem Konzert am Sonntag in Dachau wird die Sammlung wieder um ein Exemplar größer werden: Sonja Baker, eine Amerikanerin, will die Geige ihre Vaters den Weinsteins überreichen und ihre Geschichte erzählen.

Acht Violinen haben die Geigenbauer für das Konzert im Wittelsbacher Schloss ausgesucht, die exemplarisch zeigen, wie unterschiedlich ihre Vergangenheit sind. Unter ihnen ist das Instrument von Moshe Weinstein. Die Geige war sein lebenslanger Begleiter. Auf einer Hochzeit hörte der kleine Moshe das erste Mal den süßlichen Klang des Instruments, als eine Klezmer-Gruppe spielte. Statt mit den anderen Kindern zu spielen, lauschte der Junge fasziniert der Musik - und als die Gruppe weiterzog, reiste Moshe heimlich mit. Als man ihn entdeckte, kamen die besorgten Eltern und zerrten ihn mit nach Hause. Er bekam eine Geige, brachte sich das Spielen selbst bei, studierte später an der Musikakademie in Vilnius und lernte schließlich bei Jakob Zimmermann in Warschau, wie man Geigen instand setzt. Nach seiner Flucht nach Palästina eröffnete er 1938 in Tel Aviv das Geigengeschäft, das heute Sohn und Enkel führen.

Gespielt wird am Sonntag aber auch auf zwei Violinen, die schon einmal in Dachau waren. Die eine gehörte dem Wiener Metzger Erich Weininger. Er wurde 1938 verhaftet, als die Nazis in Österreich einmarschierten. Man verschleppte ihn nach Dachau, später nach Buchenwald. Seine Geige begleitete ihn, auch wenn er in den Lagern nicht spielen durfte. Auf eine Initiative der Quäker wurde Weininger schließlich entlassen, kehrte nach Wien zurück, bevor er als einer der letzten Juden aus Europa floh. Doch auf dem Schiff Richtung Palästina nahmen ihn die Briten fest und brachten ihn auf die Insel Mauritius. Mit anderen Deportierten gründete Weininger dort eine Musikgruppe und spielte in Cafés und Restaurants. 1945 wanderte er nach Palästina aus. Die Geige brachte sein Sohn Zeev.

Auch Abraham Merczynski war mit seiner Geige im KZ Dachau. Als 21-Jähriger wurde er mit seinen beiden Brüdern vom Ghetto Łodz zunächst nach Auschwitz, dann nach Dachau deportiert. Im Außenlager Kaufering I musste er eine unterirdische Fabrik zum Flugzeugbau errichten. Ob dort musiziert wurde, ist ungewiss. Möglicherweise spielte Merczynski erst nach der Befreiung wieder Geige. Er kam mit seinen Brüdern bei der Familie Sesar in München unter. Als er 1955 in die USA auswanderte, schenkte er dem 14-jährigen Sohn der Familie seine Geige. Merczynskis Tochter sagt, Musik und Geigenspielen blieb ihrem Vater zeitlebens wichtig. "Es erhielt ihm die mentale Gesundheit."

Eine andere Violine gehörte einem Gefangenen in Auschwitz, der im Lagerorchester spielte. Die Violine hat sein Leben gerettet, sagte er, als er sie nach dem Krieg für 50 Dollar an den Holocaust-Überlebenden Abraham Davidowitz verkaufte. Der Name des Musikers ist nicht bekannt. Heute wird die Violine von den größten Geigensolisten gespielt auf Konzerten fast überall auf der Welt. Andere Geigen gehörten Mitgliedern des Palestine Orchestras, das 1936 gegründet worden war und 1948 in Israel Philharmonic Orchestra umbenannt wurde. Die Musiker weigerten sich, deutsche Instrumente zu spielen. Besonders keine Violine, die aus der Werkstatt Wagner kam. Denn in Auschwitz wurde immer Richard Wagner gespielt, erklärt Amnon Weinstein. Auch wenn der Geigenbauer aus dem 18. Jahrhundert ein anderer war als der Komponist, so reichte die Namensgleichheit für schlechte Gefühle.

Der erste Konzertmeister Zvi Haftel hatte zwar ein französisches Instrument, aber er verlor nach der Machtergreifung der Nazis seine Anstellung in einem deutschen Orchester und wanderte deshalb nach Palästina aus. Seine Violine ist eine der besten in der Weinstein-Sammlung. Fragt man Amnon Weinstein, welche Geige ihm am liebsten sind, sagt er nur: "Sie sind alle meine Kinder, sie sind meine Familie. Ich behandele sie alle gleich."

Das Programm für das Schlosskonzert in Dachau ist übrigens passend gewählt: "Es erzählt, was im KZ gespielt wurde", sagt Hülshoff. Im Archiv der Gedenkstätte hat man handschriftliche Aufzeichnungen von Häftlingen gefunden, wie etwa das Weihnachtskonzert von 1943/44 aussah. Und so wird auch am Sonntag wieder die Kleine Nachtmusik von Mozart gespielt, sowie "Dichter und Bauern" von Suppés, Dvořák, Beethoven und Schumann. "Noten gab es damals keine", sagt die Dachauer Kreisheimatpflegerin Brigitta Unger-Richter, die das Konzert mit initiiert hat. Die Häftlinge spielten auswendig. Verboten waren die Werke jüdischer Komponisten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy. Doch oftmals spielten die Musiker seine Stücke heimlich unter anderem Namen, so Unger-Richter. Erstmals wird auch eine Komposition von Hans Neumeyer, der bis 1938 in Dachau lebte und dann ins KZ kam, in seiner Heimat gespielt.

Von besonderer Bedeutung dürfte das Konzert aber für Loka Salzmann sein. Der Israeli ist Geigensolist und spielte beim Israel Philharmonic Orchestra. Am Sonntag wird er die Violine von Moshe Weinstein spielen. Leicht dürfte das für ihn nicht werden, so wie die ganze Reise nach Dachau. Denn sein Vater Pesach Salzmann war von August 1944 bis zur Befreiung im April 1945 im KZ Dachau inhaftiert (Außenlager Mühldorf). Man kann es wohl als ein Zeichen der Versöhnung deuten, dass er ausgerechnet hier spielen wird.

© SZ vom 17.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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