Gefangenentransport:Der erste Transport aus Österreich

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Am 2. April 1938 trafen im KZ Dachau 150 Gefangene aus Wien ein, politische Gegner, aber auch viele Juden. Ein ökumenischer Gottesdienst in der Versöhnungskirche und eine Gedenkfeier am jüdischen Mahnmal in der KZ-Gedenkstätte erinnern 80 Jahre später an die Opfer

Von Helmut Zeller, Dachau

Drei Wochen nach der Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen traf am 2. April 1938 der erste Transport von NS-Verfolgten aus Wien in Dachau ein. Unter den 150 Gefangenen befanden sich Funktionäre der zuvor im österreicheischen "Ständestaat" autoritär herrschenden "Vaterländischen Front" (VF), auch von ihnen verfolgte Sozialdemokraten und Kommunisten und eine größere jüdische Gruppe. Das erste Mordopfer aus diesem Transport war der jüdische Gewürzfabrikant Johann Kotanyi, der noch im April 1938 von der Lager-SS in den Suizid getrieben wurde. Auch der Rechtsanwalt und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Desider Friedmann, wurde nach Dachau verschleppt, am 13. April an die Gestapo Wien rücküberstellt und später in das KZ Buchenwald und das Ghetto Theresienstadt deportiert. Desider Friedmann und seine Frau Ella wurden 1944 in Auschwitz ermordet. In dem Transport am 2. April war auch der VF-Landesführer und spätere Bundeskanzler Alfons Gorbach - allein im Jahr 1938 sollten 7800 weitere Österreicher folgen.

80 Jahre später, am Samstag, 8. April, erinnert ein ökumenischer Gedenkgottesdienst in der evangelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte an die ersten österreichischen Dachau-Häftlinge. Kirchenrat Björn Mensing und Pastoralreferent Ludwig Schmidinger, die Beauftragten ihrer Kirchen für die KZ-Gedenkstättenarbeit, haben dazu zwei Bischöfe aus Österreich eingeladen: Der streitbare emeritierte katholische Linzer Bischof Maximilian Aichern, 1932 in Wien geboren, spricht über seine prägenden Begegnungen mit deutschen Besatzern und Dachau-Überlebenden. Aichern war wegen seines sozialen Engagements und seiner liberalen Amtsführung in der katholischen Kirche angefeindet. Maximilian Aichern bezeichnete in den Achtzigerjahren den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken "nach Tschernobyl" als "ethisch nicht mehr vertretbar".

Ein ökumenischer Gottesdienst in der Versöhnungskirche erinnert an die Opfer. (Foto: Toni Heigl)

Der evangelische Bischof Michael Bünker hält am Sonntag die Predigt, in der er auch auf heutige Menschenrechtsverletzungen eingehen wird. Zum ersten Mal an der KZ-Gedenkstätte, so Pfarrer Björn Mensing, werde auf Initiative aus Dachau mit Beteiligung von österreichischen Bischöfen "ökumenisch und christlich-jüdisch" der Häftlinge aus Österreich - sie waren überhaupt die ersten ausländischen im Lager - öffentlich gedacht. Zudem reisen ökumenische Gruppen aus Tirol, Oberösterreich und Niederösterreich an.

Nach dem Gottesdienst um elf Uhr gehen die Besucher zur Jüdischen Gedenkstätte. Nikola David, Kantor der Liberalen jüdischen Gemeinde München, Beth Shalom, wird dort ein Gedenkgebet singen. Als Ehrengäste haben die beiden Schoah-Überlebenden Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, und Ernst Grube, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, ihr Kommen zugesagt. Auch Karin Offman, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern.

Der katholische Sozialpolitiker Johann Staud kämpfte bis zum Schluss für die Unabhängigkeit Österreichs. (Foto: Toni Heigl)

Der erste Häftlingstransport aus Österreich mit seinem großen Anteil an jüdischen Opfern verweist auf die Frage, welche Rolle das KZ Dachau als politisches Lager für die Vernichtung des europäischen Judentums gespielt hat. In den frühen Lagern, so auch in Dachau, sollten vor allem die politischen Gegner des Nazi-Regimes gebrochen werden. Der Historiker Dirk Riedel schreibt in einem Aufsatz, dass "neuere Forschungsergebnisse zugleich darauf hindeuten, dass für die verantwortlichen Akteure . . . von Anfang an Gegnerdefinitionen eine entscheidende Rolle spielten, die über das Ziel der reinen Machterhaltung weit hinausreichten" ("Vom Terror gegen politische Gegner zur rassistischen Gesellschaft" in " . . . der schrankenlosen Willkür ausgeliefert; Campus-Verlag). Dirk Riedel war jahrelang an der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig und arbeitet jetzt im NS-Dokumentationszentrum München. Wie er darlegt, befanden sich bereits 1933 unter den KZ-Häftlingen in Dachau viele Juden, die nicht allein aus politischen Gründen, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft verhaftet worden waren. Die ersten Mordopfer, Rudolf Benario, Ernst Goldmann, Arthur Kahn und Erwin Kahn, waren Juden und als solche bewusst ausgewählt worden.

Ein Viertel der ungefähr 200 000 Gefangenen des 1933 errichteten Konzentrationslagers Dachau und seiner Außenlager war jüdischer Herkunft. Schon 1937 waren das 200 bis 250 Gefangene, weil jüdische Häftlinge aus anderen Lagern in Dachau zusammengefasst wurden. Im Sommer 1938, nach der Annektierung Österreichs, verschleppte die SS weitere 1434 Juden nach Dachau. Nach den Novemberpogromen 1938 wurden insgesamt mehr als 26 000 jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt - 10 911 davon ins KZ Dachau. Sie wurden mehr noch als andere Opfer gequält und terrorisiert. Innerhalb von zwei Monaten kamen 151 Juden ums Leben. Bis 1938 wurden jüdische Häftlinge formal zwar nicht aus "rassischen" Gründen inhaftiert, sondern weil sie einer gegnerischen Partei angehörten oder angeblich kriminell waren. Sie wurden aber als Juden gekennzeichnet und standen auf der niedrigsten Stufe der Häftlingshierarchie.

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Desider Friedmann, wurde 1944 in Auschwitz ermordet. (Foto: Toni Heigl)

Als Juden für die NS-Rüstungsproduktion gebraucht wurden, verschleppte die SS im Sommer 1944 fast 35 000 "arbeitsfähige" Juden vor allem aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Litauen und Polen aus den Lagern in Osteuropa nach Dachau und in seine Außenlager. Die Bedingungen waren katastrophal, vor allem in den Außenlagern bei Mühldorf und Kaufering, wo mehr als jeder dritte Häftling starb. Viele andere Häftlinge wurden in den sicheren Tod nach Auschwitz, Bergen-Belsen und Flossenbürg deportiert, viele überlebten die Todesmärsche bei der Räumung der Lager 1945 nicht.

Auch waren unter den ersten Häftlingsgruppen Gefangene, die aus sozialrassistischen Gründen verfolgt wurden. Spätestens 1934 wurden dem Gedenkstättenarchivar Albert Knoll zufolge etwa Homosexuelle ins KZ gebracht. Dachau war ein politisches Lager - allerdings werfen Wissenschaftler die Frage auf, ob es nicht zugleich bereits in der Frühphase ein Terrorinstrument der "Volksgemeinschaft" war, nachdem die Nationalsozialisten die politische Opposition in Deutschland ausgeschaltet hatten.

Kirchenrat Björn Mensing, Pfarrer der Versöhnungskirche. (Foto: Toni Heigl)

Die systematischen Verhaftungen in Österreich begannen drei Wochen nach dem "Anschluss" am 11. März 1938. Neben Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten gehörten Sinti und Roma zu den Verfolgten. Der in Wien aufgewachsene Dachauer Künstler Alfred Ullrich, dessen Mutter aus einer österreichischen Sinti-Familie stammte, kommt mit seiner Tochter Anna Dietze. Seine Mutter hat fast ihre gesamte Familie verloren. Zwei seiner Onkel wurden 1939 aus Wien ins KZ Dachau verschleppt, ein weiterer 1942.

Der Mythos von Österreich als erstem Naziopfer beeinflusste die österreichische Politik noch Jahrzehnte nach Kriegsende. Erst 1993 bat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky vor der israelischen Knesset um Vergebung für die Beteiligung vieler Österreicher an den NS-Verbrechen, die den "Anschluss" herbeigeführt und begeistert bejubelt hatten. Der sogenannte Ständestaat unter Führung der "Vaterländischen Front" hatte 1933/34 die Demokratie beseitigt.

Pastoralreferent Ludwig Schmidinger. (Foto: Joergensen)

Ein Großteil der Bevölkerung war von einem aggressiven Antisemitismus vergiftet, an dessen Entwicklung die katholische Kirche stark beteiligt gewesen war. Eine Ausstellung der Vereins "Zum Beispiel Dachau" in der Versöhnungskirche, die bereits zu sehen ist, erinnert an die "Österreicher im Widerstand gegen Hitler" - darunter auch an VF-Politiker, die ihren sozialdemokratischen Gegnern als Faschisten galten und von österreichischen und deutschen Nationalsozialisten bekämpft wurden.

Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, schrieb nach dem gescheiterten Februaraufstand 1934 an seinen Sohn Ernst: "Entweder ein österreichischer Faschismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg." Dem 82-jährigen todkranken Freud gelang im Juni 1938 die Flucht ins englische Exil. Viktor Frankl, der die Logotherapie - die dritte Wiener Schule der Psychotherapie - begründete, wurde nach Theresienstadt, Auschwitz und in die Dachauer Außenlager bei Kaufering und nach Türkheim verschleppt.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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