Gedenkfeier im Dachauer Rathaus:Die Erinnerung darf nicht verstummen

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Die Zeitzeugin Ruth Melcer. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Lange hat Ruth Melcer (83) darüber geschwiegen, was sie im KZ Auschwitz erlebt hat - sie war ein Kind. In Dachau spricht sie, "weil es andere nicht mehr können".

Von Viktoria Großmann

Weiße Gestalten, die durch den Schnee kommen. "Es war eiskalt. Mir ist immer am 27. Januar so kalt", sagt Ruth Melcer an diesem 27. Januar im Dachauer Rathaus. Die Stadt hat sie zum Gespräch eingeladen zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialmus. Ruth Melcer war neun Jahre alt, als die Rote Armee 1945 das Lager Auschwitz-Birkenau befreite. "Da war keine Freude. Sondern Trauer. Da habe ich richtig gemerkt, ich bin ganz alleine."

Heute ist Ruth Melcer 83 Jahre alt. Sie hat drei Kinder und sechs Enkel. Eine der Enkelinnen sitzt im Foyer des Rathauses, sie begleitet ihre Großmutter immer bei diesen seltenen Gelegenheiten, wenn sie von der Vergangenheit erzählt. "Sie schläft nicht so gut in den Nächten davor und danach", sagt die Enkelin. Neben ihr sitzen Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne). Viele Besucher haben keinen Sitzplatz bekommen, es sind wohl mehr als 150. Sie sitzen auf den Stufen, lehnen im Treppenhaus an den Geländern. Wie Ruth Melcer nach dem Gespräch da steht, elegant im Hosenanzug, Seidenschal, Ohrclips, dezenter Lippenstift, umringt von Neugierigen - steht, redet, zuhört, lacht - ist ihr keine Anstrengung anzumerken. Nur auf den Stufen hält sie sich ein bisschen am Geländer fest.

"Ich weiß doch nichts, ich habe doch nichts zu erzählen." So dachte Ruth Melcer lange

"Ich war doch noch ein Kind", sagt sie. Sie meint damit nicht nur die Grausamkeit der nationalsozialistischen Verbrechen. "Ich weiß doch nichts, ich habe doch nichts zu erzählen." So dachte Ruth Melcer lange. Spät begann sie zu berichten. 1995 fuhr sie das erste Mal wieder nach Polen, zum 50. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz. 2012 gemeinsam mit der Familie. 2015 stellte sie in der Münchner Öffentlichkeit ihr Kochbuch vor - ihre Art, an ihre polnisch-jüdische Familie zu erinnern. Im Februar 2018 war sie bereits einmal zu Besuch an der Versöhnungskirche in Dachau. "Heute sehe ich die Pflicht und Verantwortung, darüber zu sprechen. Weil es andere nicht mehr können."

Oberbürgermeister Florian Hartmann. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Eltern, die anderen Erwachsenen, hätten später immer von der Zeit in den Ghettos und im Lager gesprochen untereinander. Sie habe davon nichts wissen wollen. "Es hat uns viel, viel später eingeholt", sagt Ruth Melcer heute. "Es geht nichts verloren." Sie erinnert sich, wie nach dem deutschen Überfall auf Polen, ihr Vater und ein Onkel für eine Woche nicht nach Hause kamen, sich versteckt hielten. Denn gleich zu Anfang, so weiß sie heute, seien Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute erschossen worden, "um den Widerstand zu brechen". Die Familie besaß eine kleine Fabrik, in der Stoffe hergestellt wurden. Auf Webstühlen, die noch von Hand betrieben wurden. Die jüdische Familie, Ruth, ihre Eltern und der jüngere Bruder wurden in Ghettos gesperrt. Ein kleines Zimmerchen habe sich die gesamte Familie geteilt. Die Eltern mussten Kleidung sortieren. "Wenn sie nach Hause kamen, brachten sie etwas Essbares mit." Ihr kleiner Bruder und sie seien auf sich gestellt gewesen. "Ob es irgendeine Betreuung für die Kinder gab, weiß ich nicht mehr." 1942 kam die Familie ins Zwangsarbeitslager Bliżyn, wo die Eltern Kleidung für die Wehrmacht nähen und ausbessern mussten. Obwohl Ruth erst acht Jahre alt war, gab ihre Mutter sie für zwölf aus. Damit galt sie als arbeitsfähig. Ihr Pensum aber konnte sie als kleines Mädchen nicht schaffen. Andere mussten ihr helfen. An die SS-Leute erinnert sie sich so: "Das waren Leute mit riesengroßen Hunden. Die Hunde waren so riesengroß, weil ich so klein war. Und die Männer trugen schwarze Stiefel." Hunde habe sie noch lange Zeit nicht ausstehen können. 1944 wurde die Familie nach Auschwitz gebracht. Ohne den kleinen Bruder. Die Mutter hatte den Sechsjährigen als Achtjährigen ausgegeben. Doch das half ihm nicht. Erst viel später, auf der Reise 2012, erfuhr Ruth Melcer, was mit ihrem Bruder geschehen war. "Sie haben die kleinen Kinder mit einem Lastwagen weg gebracht und im nächsten Wald erschossen."

Ruth hätte selbst erschossen werden sollen

Das Foyer des Rathauses war gut besucht. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Ruth hätte selbst erschossen werden sollen. Bis zum Januar 1945 hatte sie auch deshalb überlebt, weil sich eine Kapo und auch eine SS-Frau ihrer angenommen hatten. Die tschechische Kapo zweigte Essen für sie ab, versteckte sie vor dem Lagerarzt Mengele. Die Deutsche kleidete sie ein. Doch als die sowjetischen Soldaten schon anrückten, wurde sie ins C-Lager, das sogenannte Zigeunerlager nach Birkenau geschickt. Eigentlich ein Todesurteil. Doch die SS-Leute flohen, die Häftlinge blieben zurück. Ihre Mutter war auf einen Todesmarsch geschickt worden, sie wurde später aus dem KZ Ravensbrück befreit. Ruth wurde mit anderen Kindern von den sowjetischen Soldaten in ein Kinderheim in Krakau gebracht. "Die anderen Kinder haben gesagt, ihr Saujuden!" Doch sie hätten zusammen gehalten. Bald schon gründete sich in Krakau eine neue jüdische Gemeinde, die holte die Kinder zu sich ins Gemeindehaus. Dann kam die Mutter zurück, Ende September auch der Vater. "Ich habe meiner Mutter gesagt, dass wir meinen Bruder suchen müssen", sagt Melcer. Die Mutter habe dazu nichts gesagt.

Die Familie bleibt nicht lange im alten Heimatort Tomaszów Mazowiecki. Es kommt zu Pogromen in Polen. Die Eltern fahren mit der Tochter nach Stettin an der Ostsee. Fluchthelfer bringen sie nach Berlin Schlachtensee. "Ich hatte Freunde, ich bekam mein erstes Fahrrad - es war viel zu groß für mich. Ich ging das erste Mal in eine richtige Schule, und wir sind ins Kino gegangen", erinnert sich Melcer. Die Familie zieht noch mehrmals um, landet schließlich in Augsburg, später in München.

Sie sei ein aufmüpfiger Teenager gewesen. Die Lehrer seien für sie alles alte Nazis gewesen: "Ich war nicht zu irgendwelchen Kompromissen bereit." In jener Kutsche, die sie in der Kälte von Birkenau nach Krakau gebracht hatte, habe sie sich geschworen: "Ich lasse mir nichts mehr gefallen." Später im Schwabing der fünfziger und sechziger Jahre habe sie die Freiheit genossen, schwärmt die Münchnerin.

Die Dachauer im Rathaus applaudieren lange. Ruth Melcer sagt: "Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Vor allem bei den vielen jungen Leuten. Das gibt mir wieder Hoffnung."

© SZ vom 29.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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