Maria Graf wurde 1897 geboren und arbeitete in der Königlichen Pulver- und Munitionsfabrik bei Dachau. Sie war jung und ungebunden. Die Arbeit gefiel ihr besser als die Arbeit, die sie vorher gemacht hatte, als sie noch Magd auf einem Bauernhof war. Das "Herrschaftsdienen" hatte sie satt, wie sie in einem Gedicht schreibt. Stolz ließ sie sich mit ihrer Arbeitskleidung in Hosen fotografieren. Frauen in Hosen - das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Hingucker.
Man könnte meinen, dass die Arbeit am Fließband viel unbefriedigender war als in der Landwirtschaft. Wenn die Kühe gefüttert waren und zufrieden wiederkäuten oder das duftende Heu in die Scheune eingebracht war, dann konnte man den Feierabend genießen. In der Fabrik dagegen liefen die Maschinen ohne Unterbrechung. Nicht die getane Arbeit, sondern die Stechuhr bestimmte, wann der Feierabend begann. Doch für Maria Graf bedeutete die Arbeit in der Fabrik ein besseres Gehalt, geregelte Arbeitszeiten, freie Sonntage und ein gutes Essen aus der Kantine mit hauseigener Schlachtung.
Die Fabrikarbeit bedeutete einen Fortschritt. Es war ein "Aufbruch in neue Zeiten". So lautet der Titel einer Ausstellung, die an diesem Donnerstag in der Sparkasse Dachau eröffnet wird. Sie zeigt, wie die Industrialisierung das ländliche Oberbayern und den Raum Dachau verändert hat. Exemplarisch wird darin das Leben der Maria Graf erzählt.
Maria Graf war unverheiratet und hatte keine Kinder. Sie musste nur für sich selbst sorgen. Mütter hatten ein härteres Leben. Sie mussten arbeiten, weil das Gehalt des Mannes nicht ausreichte. Nebenher versorgten sie noch den Haushalt und die Kinder. In der Dachauer Pulver- und Munitionsfabrik gab es eine Säuglingsstation mit 60 Betten. Gleich nach der Geburt gingen die Mütter wieder arbeiten, konnten aber zwischendurch ihre Kinder stillen. Gesund war das nicht, weder für die Mütter noch für die Kinder. Weil die Eltern fehlten, versorgten oft ältere Kinder die jüngeren.
Auch Georg Scherer, der später als KZ-Häftling, Widerstandskämpfer und Nachkriegspolitiker bekannt wurde, musste sich als Zehnjähriger um seine kleinen Geschwister kümmern. Bei Bauern schaffte er das Essen für die Familie heran. Für den Schulbesuch blieb wenig Zeit, sodass er kaum lesen und schreiben lernte. Der Stiefvater war im Krieg und die Mutter arbeitete in der Pulver- und Munitionsfabrik, die von 1915 bis 1919 existierte.
Weil die Männer im Krieg kämpften, arbeiteten in der Fabrik fast nur Frauen. Die Betriebsleitung bemühte sich sehr, auf die Frauen einzugehen. Ein Berichterstatter aus der Fabrik schrieb: "Den aus dem weiblichen Organismus resultierenden Unpässlichkeiten wird soviel als möglich Rechnung getragen, weil es als zweckmäßiger angesehen wird, dass die Frauen einmal einen Tag fehlen, statt dass sie durch Unpässlichkeit unlustig zur Arbeit gehen." Fabrikpflegerinnen waren, ähnlich wie heutige Frauenbeauftragte, nur für die Belange der Arbeiterinnen zuständig. Sie unterstützten die Frauen bei der Wohnungssuche und bei der Versorgung der Kinder und sie achteten darauf, dass die gesetzliche Arbeitsregelung und der Mutterschutz eingehalten wurden.
Wie oft in der Geschichte, kamen Frauen nur deshalb zum Zug, weil es zu wenige Männer gab. In Kurzlehrgängen wurden Frauen zu Schlosserinnen oder Dreherinnen ausgebildet. Dieses Angebot wurde begeistert angenommen. Für die Anleiter war es allerdings ungewohnt, dass die Frauen so gewissenhaft arbeiteten und sich sehr bemühten, alles richtig zu machen. In einem Bericht der Pulver- und Munitionsfabrik heißt es: "Die Behandlung der Frauen während der Lehrzeit hat sehr vorsichtig zu erfolgen, auch Verweise sind immer in guten Worten zu erteilen, da die Lernenden durch scharfe Worte leicht weinerlich werden und die Lust an der Arbeit ebenso verlieren, als wenn ihnen einmal ein Stück missglückt."
Dann fügt der Schreiber noch hinzu: "Es ist als ein gutes Zeichen anzusehen, dass ihnen ein verpfuschtes Stück Arbeit mehr zu Herzen geht als der Mehrzahl der männlichen Lehrlinge." Von der Betriebsleitung wurden die Frauen gefördert, aber die männlichen Kollegen versuchten ihnen, "möglichst viele Schwierigkeiten in den Weg" zu legen, kritisierte der Berichterstatter. Denn wenn die Frauen die Männer in der Fabrik ersetzen konnten, mussten diese zurück in den Schützengraben.
In der Pulver- und Munitionsfabrik waren 5000 Menschen beschäftigt. Dadurch verschlechterte sich die ohnehin dramatische Wohnsituation weiter. Es gab Sonderzüge aus München und Massenlager für die Arbeiter im Gasthof Unterbräu, bevor sie in Baracken auf dem Gelände der Pulver- und Munitionsfabrik ziehen konnten. Für Familien war es fast unmöglich, eine Unterkunft in Dachau zu finden. Deshalb zogen viele Familien aus München mit einem Wohnwagen, der nicht viel mehr bot als eine Schlafgelegenheit, in das Dachauer Umland. Dort entstanden ganze Wagenburgen. Die Familien ließen sich an Bächen und Seen nieder, wo sie sich mit Wasser versorgen konnten. Gekocht wurde im Freien.
Die Industrialisierung in Dachau hatte jedoch nicht erst im Ersten Weltkrieg, sondern schon einige Jahrzehnte früher eingesetzt. 1862 war die München-Dachauer Actiengesellschaft für Maschinenpapierfabrikation gegründet worden. Der Ingenieur Gustav Medicus hatte nach seiner militärischen Laufbahn die Papiermühle in der Münchner Vorstadt Au gekauft und kurz darauf die Konkurrenzfirma in Dachau: die Paun'sche Papiermühle in der Brunngartenstraße. Er stattete seine Fabriken mit der neuesten Technik aus. Finanziell war das nicht zu stemmen. Deshalb gründete er die Aktiengesellschaft: "Es weiß jedermann, daß ich die Gesellschaft deshalb gegründet habe, weil mir das Unternehmen über den Kopf gewachsen war, weil es größere Mittel erforderte als ich selbst besaß oder durch Credite flüßig machen konnte", schreibt Gustav Medicus in einem Brief an seine Geschwister.
Doch der Unternehmergeist in Deutschland brachte Konkurrenzfirmen hervor. Und als auf der Führungsebene der Papierfabrik auch noch Misswirtschaft betrieben wurde, schien das Unternehmen schon wieder am Ende zu sein. Gustav Medicus nahm sich diesen Tiefschlag sehr zu Herzen. Er butterte sein Privatvermögen in die Firma, um noch zu retten, was zu retten war. Gleichzeitig zog er sich aus der Geschäftsleitung zurück und investierte in ein neues Unternehmen: Die Holzstofffabrik in Deutenhofen bei Hebertshausen, die der Papierfabrik zulieferte. Sein Nachfolger in der Papierfabrik wurde Louis Weinmann, ein junger Buchhalter von gerade einmal 25 Jahren.
Er erwies sich als ein Glücksfall. Louis Weinmann hatte nicht nur die Bilanzen im Blick, sondern auch seine Arbeiter. "Nur von zufriedenen Arbeitern kann man gute Arbeit verlangen", war seine Devise. Er verschanzte sich nicht in der Verwaltungsvilla in der vornehmen Münchner Residenzstraße, sondern machte sich in den Fabriken selbst ein Bild von der Situation seiner Arbeiter und Arbeiterinnen. Er förderte sie, indem er etliche zur Weltausstellung 1873 nach Wien mitnahm. Er zeigte ihnen seine Wertschätzung, indem er mit allen das 25-jährige Bestehen feierte und bei dieser Gelegenheit eine Pensionskasse für sie einrichtete. Auch um Wohnungen kümmerte sich Louis Weinmann. Er ließ Arbeiterhäuser mit Gärten errichten, außerdem noch Badehäuser mit Kalt- und Warmwasserzuleitung. Luxus, in einer Zeit, als die Dachauer ihr Wasser noch vom Brunnen holten.
Trotzdem wurde die Fabrikarbeit auch kritisch gesehen. Im Amperboten war 1882 zu lesen: "Tag für Tag, selbst an Sonn- und den höchsten Feiertagen steigt der schwarze Qualm aus den Fabrikschloten, als ob es auf der Welt kein höheres Gut mehr gebe, als die Actien der Papierfabrik-Actionäre." Heute existiert die Papierfabrik nicht mehr, ebenso wenig wie die Malzfabrik - doch sie haben die Stadt verändert und prägen sie teils bis heute.
Annegret Braun ist Ethnologin und hat an der Ausstellung "Aufbruch in neue Zeiten" mitgewirkt.
"Aufbruch in neue Zeiten", Sparkasse Dachau, Sparkassenplatz. Eröffnung am Donnerstag, 16. Juli, von 18 Uhr an. Zu sehen bis 4. August.