30 Jahre Nachbarschaftsverein:Das Dorf im Dorf

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Anderswo überziehen sich Nachbarn mit Klagen, in der Karlsfelder Siedlung Akaziental herrscht seit 30 Jahren Harmonie. Man arbeitet und feiert gemeinsam und man hilft sich gegenseitig. Die etwa 120 Bewohner haben sogar einen eigenen "Bürgermeister"

Von Gregor Schiegl

Harald Proprentner hat einen Ziehbrunnen in seinem Garten, ein altmodisches Ding, mit geschwungenem schmiedeeisernem Hebel, an dem er kräftig pumpt. Die ersten Schübe sind noch braun. Dann sprudelt klares Wasser ins Granitbecken. Proprentner lacht. Er pumpt nur, um zu zeigen, dass das Schmuckstück keine Attrappe ist. Gießen muss man heute nicht, es regnet. Der Himmel ist dunkelgrau, das Thermometer an der Terrasse zeigt 17 Grad Celsius. Proprentner trägt ein kurzärmeliges Hemd, als berührte ihn das September-Schmuddelwetter nicht. Auch der Garten sieht aus, als wäre noch Hochsommer, alles strotzt vor Leben. Die Blumen, der Rasen, die Hecke. Die Proprentners. An der Hauswand hängt ein Schild. "Willkommen in Terrassien. Anerkannter Erholungsort." Proprentners Frau gesellt sich dazu: "Wir haben uns hier ein Paradies im Paradies geschaffen." Sie heißt Irmgard, aber alle in Karlsfeld nennen sie "Jimmy".

Nun weiß man, dass das mit dem Paradies so eine Sache ist. Solange man unter sich ist, ist alles gut, aber wehe, es kommt einer dazu. Es gibt Nachbarn, Leute mit Rasenmähern, mit Grills und mit Autos, mit Hunden und Kindern und fiependen Blockflöten. Die Hölle, das sind immer die anderen und je dichter die Leute aufeinander hocken, desto mehr scheint dieser Satz zu stimmen. Zwei von drei Deutschen sind laut einer Erhebung genervt vom Lärm in ihrer Wohngegend. Münchner, Frankfurter und Hamburger stören sich besonders an tobenden Kindern, Berliner eher an Feierwütigen und lauter Musik. Man grüßt einander nur noch selten, kommuniziert häufiger über den Anwalt. Jedes Jahr landen vor deutschen Gerichten Hunderttausende Nachbarschaftsstreitigkeiten. Oft geht es um Lappalien. Überhängende Hecken, Laub, Rauchschwaden vom Grill. In Hamburg wurden zwei Gartenzwerge aus einem Gemeinschaftsgarten herausgeklagt, durch drei Instanzen. Die pluralistische Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Werten scheint mehr und mehr das Zusammenleben zu verlernen.

Jenseits der befahrenen Bajuwarenstraße geht sehr beschaulich zu - so zum Beispiel in der Weißdornstraße. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Aber es geht auch anders. Die Proprentners sind nur zwei von etwa 120 Einwohnern einer Siedlung in Karlsfeld, die seit 30 Jahren in fast märchenhafter Harmonie zusammenlebt und beispielhaft zeigt, worauf es ankommt. "Akaziental" nennen sie diesen Ort, obwohl es ringsum gar keine Berge gibt. Im Nordwesten führt die Bajuwarenstraße vorbei mit sehr viel Verkehr, aber der Gewerbebau, den man davorgesetzt hat, leistet als Lärmschutzriegel gute Arbeit. Im Nordosten schließt sich das Betriebsgelände des Nutzfahrzeugherstellers MAN an, aber auch davon merkt man wenig. Im Süden verläuft der Würmkanal. Dahinter beginnt schon das Stadtgebiet der Landeshauptstadt München, obwohl es so aussieht, als wäre man auf dem Land. "Es gibt Eichhörnchen und Hasen und Eichelhäher", schwärmt Jimmy Proprentner. "Es ist alles sehr schön hier."

Auch das Akaziental mitten in der Großgemeinde Karlsfeld hat etwas verblüffend Ländliches. Es gibt eine Gemeinschaftswiese, die so etwas wie einen Dorfplatz darstellt. Jedes Jahr wird hier ein Maibaum aufgestellt. Zu dem Fest kommt die ganze Siedlung, ein Großgrill wird aufgestellt, jeder kann seine mitgebrachten Würstchen brutzeln. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, helfen die Bewohner zusammen, um die Gemeinschaftsflächen zu pflegen. Dann gibt es eine gemeinsame Brotzeit. In der Vorweihnachtszeit trifft man sich bei Glühwein und Plätzchen auf eine Stunde vor der Haustür wechselnder Gastgeber. "Adventstürl" nennt sich das hier. In der Silvesternacht eines bitterkalten Winters haben sie einmal eine Schneebar gebaut. Der Schnaps fror ein, und das Eis gab ihn nicht mehr her.

Dieter Schmidt und seine Frau Brigitte sind reiselustige Leute, das wissen hier alle. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Es gibt hier sogar einen "Siedlungsbürgermeister". Streng genommen ist Wolfgang Klinger Vereinsvorsitzender der Interessengemeinschaft Akazienstraße Nord, die sich vor 30 Jahren gegründet hat. Aber der Verein hält die Leute zusammen, er vertritt ihre Interessen auch nach außen. "Wir sind eine kleine politische Macht", sagt Klingers Stellvertreter, Joachim Lepple. Er ist quasi der Vize-Bürgermeister, das war er schon immer. "Man braucht immer ein paar Aktive, um die anderen mitzuziehen."

Auf den ersten Blick wirkt die Siedlung nicht ungewöhnlich: kleine bunte Reihenhäuser mit liebevoll gepflegten Gärtchen und Vordächern über dem Eingang, davor asphaltierte Sträßchen, die nach allerlei Gewächsen benannt sind: Weißdornweg, Schlehenweg, Berberitzenweg. Nur Autos sieht man nirgendwo. Die Vögel zwitschern, sonst ist es still. Ein weiß-rot lackierter Stempen blockiert die Zufahrt ins Paradies. Garagen gibt es nur in zwei Höfen außerhalb der Siedlung. Das wollten die Bewohner so, und dabei ist es geblieben. "Dann muss ich halt mal laufen", sagt Proprentner, kein Problem. "Und es halten sich auch alle daran." Nur die Lieferanten, die es immer furchtbar eilig haben, ziehen die Stempen manchmal heraus.

Irmgard und Harald Proprenter sind nur zwei von etwa 120 Einwohnern einer Siedlung in Karlsfeld, die seit 30 Jahren in fast märchenhafter Harmonie zusammenlebt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Dass man gemeinsam stärker ist, wussten sie im Akaziental schon, als von der Siedlung nicht mehr stand als ein Baustellenschild. Die künftigen Hauseigentümer taten sich zusammen, um ihre Interessen gegenüber dem Bauherren besser durchsetzen zu können. Das sparte ihnen auch eine Menge Geld: Die Wände der im Grundriss fast identischen Häuser wurden in der Fabrik vorgebaut. Ersparnis pro Haus: 60 000 bis 70 000 Mark. Joachim Lepple erinnert sich noch, wie die Eigentümer im Juni 1987 gemeinsam die Stromkabel von den Häusern zu den zugehörigen Garagen verlegten. Es war ein heißer Sommertag. "Bei Bier und Brotzeit wurde der Grundstein für so manche bis heute dauernde Freundschaft gelegt." Die Kinder aus der Siedlung haben sich schnell angefreundet. Auf der Gemeinschaftswiese gab es im Sommer Zeltlager, alle Kinder campierten zusammen. Zwei Erwachsene hielten Nachtwache. Falls mal was sein sollte. Hier passen sie aufeinander auf.

Inzwischen sind Bäume schon sehr hoch und viele Bewohner in Rente. "Wir sind zusammen alt geworden", sagt Harald Proprentner. Aber das ist nicht so schlimm. "Alle sind noch fit." Die eigenen Kinder sind schon lange ausgezogen, dafür kommen jetzt die Kleinen vom Kindergarten "Spatzennest" auf den Spielplatz der Siedlung, den die Bewohner tipptopp in Schuss halten. "Es gibt nichts Schlimmeres als eine Siedlung ohne Kinder", sagt Joachim Lepple. "Ohne Kinder wäre die Siedlung tot." Und Harald Proprentner nickt.

Joachim Lepple ist froh in einer so paradiesischen Siedlung zu leben. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Siedlung ist mit den Jahren nicht nur grauer, sondern zugleich bunter geworden. Eine Familie aus Ägypten ist jetzt hier zu Hause, Leute aus Ungarn und Tschechien, und so ist die Siedlung auch ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Beim Maibaumfest wird Spanferkel gegrillt, was man vielleicht irgendwie als Affront gegen die muslimischen Nachbarn ansehen könnte. Das tut hier aber keiner, die ägyptische Familie selbst offenbar auch nicht. "Die wollen das so", sagt Harald Proprentner. "Sie wollen unsere Kultur erleben." Das heißt nicht, dass sie ihre eigene Kultur verleugnen müssten. Es gibt dann auch mal die eine oder andere Spezialität. Was Orientalisches. Oder einen Kuchen nach traditionell slowakischem Rezept.

Dass das alles so unverkrampft funktioniert hat auch ein bisschen was mit den Leuten hier zu tun. Karlsfeld ist eine Schmelztiegel-Gemeinde. Auch die ersten Bewohner der Siedlung waren großteils Zuwanderer, die schon ein bisschen was von der Welt gesehen haben. Harald Proprentner hat die österreichische Staatsbürgerschaft - genau so wie sein ortsbekannter Bruder Werner, der für die CSU im Gemeinderat sitzt. Selbst Joachim Lepple könnte man einen Migrationshintergrund zuschreiben: Er ist Schwabe. Früher war er mit der Unesco in Marokko unterwegs als Weinbau-Experte. Bei Stuttgart hat er immer noch einen Weinberg von rund einem Hektar. Hier wachsen Silvaner, Trollinger, Dornfelder. Jeder hier kann oder hat etwas Besonderes, das er in die kleine Gemeinschaft einbringen kann. Harald Proprentner stellt seit 15 Jahren in der Adventszeit einen zwei Meter großen Weihnachtsmann in seinem Garten auf. Früher zierte der mal die Eingangshalle des Münchner Hauptbahnhofs. Christkindl-Traditionalisten hassen den Weihnachtsmann - zu kitschig, zu amerikanisch - aber die Kinder im Ort finden ihn super. Brauchtum darf hier auch mal unorthodox sein.

Alte Bilder erzählen von den Anfängen der Siedlung, als nur Acker da war. Aber auch von den Festen der etwa 120 Einwohner im Schnee und dem Spaß der Kinder beim Schlittenfahren. Repro: Niels P. Jørgensen (Foto: N/A)

Als Harald Proprentner das Haus verlässt, steht auf einmal ein Wohnmobil auf der Straße. Proprentner klopft an die Scheibe. Ein bärtiger Kopf erscheint und eine winkende Hand. "Hast du hier übernachtet, Dieter?", feixt Proprentner. Dieter Schmidt wohnt nur ein paar Häuser weiter. Er lädt gerade sein Wohnmobil für den Urlaub voll. Dann fährt er ausnahmsweise mal in die Siedlung, aber jeder weiß: Spätestens nach einem Tag ist die Kiste wieder weg. Dieter Schmidt und seine Frau Brigitte sind reiselustige Leute, das wissen hier alle. Echte Globetrotter. Es gibt in dieser Republik viele Siedlungen, in der alles anders, besser, sozialer, moralischer sein soll: die perfekte Gemeinschaft. Die Realität ist dann meist eine dogmatische Hölle, in der sektenhafte Zustände herrschen oder eine freudlose Bigotterie, bei der die Bewohner vor allem damit beschäftigt sind, den Schein zu wahren, den Normen der Gemeinschaft zu entsprechen.

Den Anspruch, alles anders zu machen, hatte man hier im Akaziental nie. "Wir sind eine ganz normale Siedlung", sagt Joachim Lepple. Durch die vielen Aktionen, die gemeinsame Siedlungspflege, vor allem die Feste gibt es immer einen regen Austausch zwischen den Bewohnern. "Gerade beim Ratschen kommt vieles zur Sprache", sagt Lepple. Und wenn jemand in Not ist, weiß er, dass er auf die anderen zählen kann. "Für mich ist das gelebte Nachbarschaft." Zur Jubiläumsfeier kam jüngst auch Bürgermeister Stefan Kolbe. Er lobte den außergewöhnlichen Zusammenhalt der Nachbarn. "Ach", sagt Harald Proprentner. "Es ist ein Geben und Nehmen". Aber unterm Strich gewinnen alle.

© SZ vom 04.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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