20 Jahre Jazz e.V. Dachau:"Wie vertont man die Bibel? Natürlich mit Jazz!"

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Die Stadt ist klein, die Gagen bescheiden, trotzdem starten namhafte Künstler der freien Musik ihre Europa-Tournee inzwischen gerne auf der Bühne des Jazz e.V. in Dachau. Ein munteres Gespräch mit dem Vorstand über 20 Jahre voller erstaunlicher Momente

Interview von Gregor Schiegl

Mittlerweile hat Dachau einen internationalen Ruf als Jazz-Stadt. Zu verdanken ist das dem Jazz e.V., einer kleinen Gruppe von Idealisten, die seit 20 Jahren internationale Künstler der improvisierten Musik und der Avantgarde nach Dachau holt. Von vielen Konzerten spricht man heute noch, etwa von Elliot Sharps Auftritt 2007 im Café Teufelhart, der als Album unter dem Titel "Concert in Dachau" Niederschlag fand. Im Oktober feiert der Verein sein 20-jähriges Bestehen mit einem Festival. Über die Anfänge des Jazz e.V. und aktuelle Entwicklungen sprach die SZ mit dem Vorstand: Klaus Bolland ist seit zwölf Jahren Vorsitzender des Jazz e.V., sein Stellvertreter Volker Widmann und Programmchef Axel Blanz sind seit den Anfängen 1999 dabei.

SZ: Es ist ziemlich kühn, im beschaulichen Dachau neben der Metropole München ein Avantgarde-Programm auf die Beine zu stellen. Wie kam es dazu?

Volker Widmann: Der eigentliche Anlass für die Gründung des Jazz e.V. war der Erweiterungsbau des Cafés Teufelhart. Es ging darum, diesen Raum mit Musik zu füllen und zwar mit einer Musik, die man so nirgends hören konnte, weder im Radio noch in den Münchner Clubs. Das war unser Impuls.

Axel Blanz: Bei dieser Art von Musik ist München gegen uns ja auch keine Metropole. Als wir angefangen haben, regierte dort der Mainstream. Wir ersetzen München eher, würde ich sagen, und die Münchner sind uns auch sehr dankbar dafür; die Hälfte unseres Publikums kommt aus München. Für manche Highlights reisen die Besucher sogar bis aus Cottbus an.

Klaus Bolland: Es ist ein sehr fachkundiges Publikum. Die Leute lassen sich nicht dadurch irritieren, dass es mal laut wird oder schräg. Die haben die Hörgewohnheiten schon mitgebracht und sind auch dankbar und freundlich und applaudieren sehr viel. Wir haben ein sehr gutes Publikum.

Die Zumutung gehört aber schon auch zur Programmatik des Jazz e.V.?

Bolland: Zumutung ist ein zu starkes Wort, aber ein bisschen was gewohnt sein sollte man schon.

Widmann: Es geht einfach um zeitgenössische Musik, um Musik, die kreativ ist, die Dinge ausdrückt, die einem im Moment selber im Kopf herumgehen. Das ist es, was man unter dem weiten Begriff Jazz zusammenfasst. Und die Künstler - das schätzt das Publikum natürlich auch - sind absolute Virtuosen.

Bolland: Das ist Champions League!

Blanz: Wenn ich Charlie Parker nehme, John Coltrane und Ornette Coleman, dann ist David Murray der nächste in dieser Reihe, der mir einfällt. Solche Leute waren unerreichbar vor 20 Jahren. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass die Initiative mal von David Murray und seinem Trio ausgehen würde, bei uns zu spielen - und jetzt haben wir sie in unserem Festivalprogramm. Das sagt, denke ich, einiges über unsere Arbeit aus.

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(Foto: Toni Heigl)

Sie alle waren schon beim Jazz e.V. zu Gast. Von links: Bob Stewart (Tuba), Christopher Hoffman (Cello) und Tony Malaby (Tenorsaxofon),...

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(Foto: Toni Heigl)

...der legendäre Elliot Sharp,...

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(Foto: Toni Heigl)

...die Pianistin Carla Bley...

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(Foto: Toni Heigl)

...sowie die derzeit extrem populäre polnische Bassistin Kinga Głyk...

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(Foto: Toni Heigl)

...und ebenfalls am Bass William Parker in einer weiteren Musikformation von Tony Malaby.

Wie war die Entwicklung des Jazz e.V. von 1999 bis 2019?

Blanz: Linear nach oben. (Lacht.) Klar, die Konzerte waren kleiner und lokaler, eher mit Musikern aus dem Münchner Raum. Wir haben sogar selbst gespielt, Gerhard Schmöckel, Richard Klimek (Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender; Anm. d. Red.) und ich am Schlagzeug. Jetzt spiele ich, weil ich es nur noch semiprofessionell mache, Traditional Jazz, vor allem New Orleans.

Das überrascht mich jetzt.

Blanz: Ja, das erwarten die wenigsten.

Haben wir sonst noch Musiker am Tisch?

Bolland: Ich spiele Klavier. Blues und Boogie. Aber ohne Noten, ganz frei.

Widmann: Ich bin nur Zuhörer.

Wie groß ist der Jazz e.V. heute?

Widmann: Wir haben etwa 50 Mitglieder, fünf davon sind seit Jahren konstant aktiv. Gerhard Schmöckel macht bei uns die Homepage und die Hotelbuchungen, ich mache das ganze Administrative, und Eva Brötz kassiert den Eintritt, sie betreut die Reservierungen, schreibt den Mitgliedern und wird den Leuten beim Festival hoffentlich jede Menge T-Shirts verkaufen. Die T-Shirts haben sehr dazu beigetragen, dass wir in der Musikwelt bekannt sind.

Blanz: Blöd, dass wir die heute nicht anhaben. Zum Geburtstag machen wir neue T-Shirts. Nicht nur die Musiker fragen danach, auch das Publikum. Manche sind ja inzwischen rausgewachsen.

Widmann: Ich auch. (Gelächter.)

Bolland: Wisst ihr eigentlich noch, wann wir in die Kulturschranne gegangen sind?

Blanz: Man kann sagen, genau zur Mitte, 2010. Zehn Jahre Teufelhart, zehn Jahre Schranne.

Sind Sie zufrieden mit dem neuen Veranstaltungsort Schranne? Die Bubu-Bühne beim Teufelhart war ja etwas lauschiger.

Bolland: Nein, war sie nicht. Die Nebengeräusche waren unerträglich.

Widmann: Man kann schon sagen, dass wir jetzt sehr zufrieden sind: super Anlage, super Akustik auf der Bühne.

Blanz: Das erzählen die Musiker ja auch weiter: dass die Crew gut war, die Akustik und das Essen, auch die Instrumente, der Flügel, das Schlagzeug ...

Bolland: Der Axel stellt sein eigenes Schlagzeug zur Verfügung.

Widmann: Ein historisches Schlagzeug! Sag doch mal, was für eines das ist.

Blanz: Ein schönes altes Gretsch, ein Siebzigerjahre-Jazz-Set aus Brooklyn. Alle haben darauf gespielt, die in 20 Jahren Jazz e.V. bei uns im Programm waren. Das Schlagzeug hat einen guten Sound und einen guten Rebound, alle spielen gerne drauf. Paul Motian, einer meiner Lieblingsschlagzeuger, wollte es auch gleich kaufen und nach New York mitnehmen. Aber das geht natürlich nicht.

Haben Jazzmusiker auch Marotten und Allüren wir Rockstars?

War ebenfalls bereits zu Gast: Jazz-Legende Peter Brötzmann. (Foto: Niels Jörgensen)

Widmann: Es gibt Leute, die sich ein Handtuch wünschen, das 36 Grad hat. Oder eine Flasche Champagner in den nicht vorhandenen Backstage-Bereich.

Blanz: So etwas schreiben die Agenturen rein. Manchmal werden auch zehn verschiedene Sorten grüner Tee verlangt. Die Musiker nehmen sich dann ein Helles - ein "local beer" wollen die dann. (Lacht.)

Widmann: Aber im Ernst: Was in der Schranne wirklich fehlt, ist eine Garderobe. Es gibt keinen Backstage-Bereich. Das ist ein echtes Manko für die Musiker. Also wenn man das irgendwann mal beheben könnte, wäre das wirklich sehr hilfreich.

Trotzdem gibt es einige Künstler von Rang und Namen, die schon mehrfach beim Jazz e.V. aufgetreten sind.

Blanz: Wir waren die ersten, die Peter Brötzmann nach 20 Jahren wieder über die bayerische Grenze gebracht haben; das war so eine Art Bannmeile für ihn. Unseren Club hat er in einem SZ-Interview mal als "Oase" bezeichnet. Ken Vandermark, ein Weggefährte von ihm aus Chicago, war auch oft da. Elliot Sharp natürlich auch.

Widmann: Und Barry Guy, Jim Black, Scott DuBois, Ray Anderson, Tony Malaby, das sind die Leute, die immer wieder mit neuen Formationen bei uns aufkreuzen.

Blanz: Der Posaunist Samuel Blaser hat hier seine erste Tour angefangen; inzwischen ist er bei einer der teuersten Agenturen unter Vertrag. Das gibt es natürlich auch, dass hier ganz junge Musiker auftauchen und dann voll durchstarten. Viele beginnen sogar ihre Europa-Tournee in Dachau. Dann heißt es "Dachau - Berlin - Paris". Darauf sind wir schon stolz.

Wie hat es der Jazz e.V. geschafft, sich international so einen Namen zu machen?

Bolland: Wir kümmern uns um die Musiker, das spricht sich schnell herum.

Blanz: Die Musiker können sorgenfrei auftreten und sie bekommen pünktlich ihr Geld, das scheint auch nicht überall selbstverständlich zu sein. Und das Dachau-Konzert, das Elliot Sharp mit Solo-Gitarre hier aufgenommen und in New York produziert hat, hat natürlich auch viel Beachtung gefunden. Die Scheibe hat den Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen.

Gibt es solche Live-Mitschnitte öfter?

Blanz: Nachdem wir jetzt das Equipment haben, haben wir uns schon überlegt, ob man vielleicht das eine oder andere Konzert mitschneiden könnte. Vielleicht wird ja eine ganze Reihe daraus. Die Bands müssen halt auch einverstanden sein.

Man hört immer wieder divergierende Ansichten, was die aktuelle Lage des Jazz betrifft: Die einen sehen spannende neue Entwicklungen, andere beklagen lähmenden Stillstand. Was stimmt?

Der Vorstand des Jazz e.V.: der Vorsitzende Klaus Bolland (Mitte), sein Stellvertreter Volker Widmann (links) und Axel Blanz, der die federführend Rolle bei der Konzertplanung hat. (Foto: Niels P. Joergensen)

Blanz: Vor zwei, drei Jahren hatten wir dieselbe Diskussion auch schon mal. Aber wenn man die Festivals besucht, merkt man schon, wo's lang geht. Das Barry Guy New Orchester, das wir auch schon da hatten, verschmilzt Jazz mit Neuer Klassik, es kommen Bands aus New York, bei denen Jazz mit Punk verschmilzt, in Berlin kommen extrem verschiedene Einflüsse zusammen, und München hat zusammen mit Dachau wahrscheinlich die höchste Dichte an Techno-Bigbands, siehe Bigband Dachau. Es ist von Metropole zu Metropole ganz verschieden: Chicago klingt anders als New York, und New Orleans ist sowieso der Melting Pot von allem.

Widmann: In den USA gibt es außerdem gerade eine Art Repolitisierung des Jazz, bei der man wieder auf die schwarzen Wurzeln zurückgeht, bis zur Sklaverei. Leute wie Kamasi Washington befruchten den Jazz gerade unglaublich. Da bewegt sich so viel gleichzeitig. (Allgemeines Kopfnicken.) Wir hatten doch auch mal diese jiddische Band aus New York da, wie hieß die gleich wieder? Das waren Orthodoxe, die nur Sachen aus der Bibel vertont haben. In der Bibel gibt es ganz viele Lieder, aber keine Noten dazu, und diese Band hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Lieder mit Musik auszustatten - und natürlich kann das nichts anderes sein als Jazz! (Lacht). Ja, da erlebt, man die tollsten Konzepte.

Bolland: Als ich vor zwölf Jahren das erste Mal ein Konzert beim Jazz e.V. gehört habe, hat mich das umgehauen!

Widmann: Klaus hat sich vom Fan zum Mitglied entwickelt, das kommt oft vor.

Blanz: Aber nicht dass der Fan zum Präsidenten wird, das ist schon etwas Besonderes.

Bolland: Ich weiß noch, das Konzert mit dem Cellisten Hank Roberts, da hatten die Zuhörer Tränen in den Augen. Manche haben sogar geschluchzt, sogar die Musiker, so emotional war das.

Widmann: Daran sieht man, dass Jazz eben nichts Abgehobenes, Elitäres, Kaltes ist, sondern eine total bewegende und bereichernde Musik.

Täuscht der Eindruck oder ist Ihr Publikum eher männlich und etwas älter?

Widmann: Ü50 würde ich sagen.

Blanz: Na, so alt auch wieder nicht. Über 40, würde ich sagen.

Warum sind so wenige junge Leute da?

Widmann: Ich glaube, es braucht eine gewisse Musikerfahrung: Dass ein 20-Jähriger schon zu dieser Musik gefunden hat, ist äußerst unwahrscheinlich. Man muss schon einiges gehört haben.

Blanz: Ich musste als Sechsjähriger immer John Coltrane hören. (Große Heiterkeit am Tisch.)

War's so schlimm?

Blanz: Anfangs schon. (Gelächter.)

Widmann: Für die neue Bewegung des politisierten Jazz interessieren sich auch Jüngere. Es ist ja auch etwas Befreiendes im Jazz, sowohl politisch wie ästhetisch.

Jazz scheint auf der Bühne aber immer noch eine Männerdomäne zu sein.

Widmann: Es gibt auch namhafte Musikerinnen im Jazz: Silke Eberhard zum Beispiel, Satoko Fuji oder Aki Takase, die jetzt auch bei uns im Festival auftritt.

Blanz: Da sind schon starke Frauen dabei. Beim Quartett von Sebi Tramontana spielt Joëlle Léandre mit, eine sehr hoch angesehene Bassistin der freien Musik.

Bolland: Carla Bley hat auch bei uns gespielt.

Blanz: Stimmt, wir hatten über die Jahre schon ein paar große Damen im Programm. Aber man muss bei der Programmgestaltung schon bewusst danach Ausschau halten.

© SZ vom 21.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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