Fotos: Florian Peljak, Carmen Wolf, dpa
Der Großraum München steht vor gewaltigen Herausforderungen. Keine andere Region in Deutschland wächst so stark. Die florierende Wirtschaft und die Attraktivität Münchens und des Umlands ziehen jährlich Zehntausende Menschen an. Die Auswirkungen sind bekannt: Wohnungsmangel nicht nur in der Landeshauptstadt, hohe Mieten, Stadt und Umland kommen mit dem Bauen kaum noch hinterher. Dazu stehen die Pendler zunehmend im Stau, die S-Bahn stößt längst an ihre Kapazitätsgrenzen, auch in den Münchner U-Bahnen herrscht meist dichtes Gedränge. Der Regionale Planungsverband, der Zusammenschluss von 185 Gemeinden, acht Landkreisen und der Landeshauptstadt hat sich angesichts der drängenden Probleme zu einem mutigen Schritt entschlossen: Er lud knapp 100 zufällig ausgewählte Menschen aus München und der Region ein, das deutschlandweit erste Bürgergutachten auf regionaler Ebene zu erstellen. Es soll nun als Leitbild für die Entwicklung der Region dienen.
Das Ergebnis des Laien-Gremiums, das in vier Gruppen jeweils vier Tage lang Visionen und Empfehlungen für den Großraum München entwickelt hat, ist imposant: Auf 104 Seiten haben die Teilnehmer des Bürgergutachtens klare Aussagen dazu getroffen, wie die Region auf die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte reagieren soll. Die wichtigsten Themen: die Eindämmung des Autoverkehrs, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der verstärkte Bau von höheren Häusern. Karl Roth, Vorsitzender des Planungsverbands und Starnberger Landrat, versprach bei der Präsentation am Dienstagabend, sich dafür einzusetzen, "dass Ihre Vorschläge nicht verpuffen, sondern in die Fortschreibung des Regionalplans einfließen und in regionalen Diskussionen Gehör finden".
Bevölkerungswachstum
Das starke Wachstum in München und der Region wird von den Teilnehmern des Bürgergutachtens sowohl positiv als auch mit Sorge gesehen. So sei die Verjüngung der Bevölkerung durchaus ein positiver Effekt. Allerdings befürchten einige Laien-Gutachter die Verdrängung von Geringverdienern, Gentrifizierung und sogar Ghetto-Bildung. Wichtig sei deshalb, gezielt Angebote in den Bereichen Bildung und Kultur zu schaffen. Ziel sei es, den Menschen lebenslanges Lernen überall in der Region zu ermöglichen. Interessant ist, wie sich eine überwältigende Mehrheit die Siedlungsentwicklung des Großraums München wünschen: nicht wie bislang punktaxial, also entlang des S-Bahn-Netzes und der Autobahnen mit München im Mittelpunkt, sondern dezentral beziehungsweise polyzentrisch. Zentrale Orte im Umland sollen demnach gestärkt werden, um künftig bessere Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Arbeiten und Wohnen am gleichen Ort möglich sind. Dadurch würde der Druck auf München sinken, glauben die Bürger. Der Zuzug soll - mit dem Ausbau des Verkehrsnetzes - auch in entlegenere Orte jenseits der Region gelenkt werden.
Verkehr
Als Hauptproblem beim Verkehr nennen die befragten Bürger eindeutig das Auto. Sie fordern weniger Autos in der Stadt, notfalls auch mit Einschränkungen für den privaten Autoverkehr, etwa eine Pkw-Maut in München. Zu den Forderungen zählen auch Tempo 30 in der Innenstadt bis hin zu möglichen Fahrverboten. Eine Vision wäre das Fahrverbot für Autos mit Verbrennungsmotor in der Innenstadt. Interessant dabei ist, dass viele der Teilnehmer selbst meist das Auto nutzen, allerdings in Zukunft häufiger auf das Auto verzichten wollen. Im öffentlichen Personennahverkehr fehlt es den befragten Bürgern an Ringverbindungen und Tangenten, um nicht zwangsläufig mit der S-Bahn über München fahren zu müssen. Insgesamt halten die Teilnehmer des Bürgergutachtens den öffentlichen Nahverkehr für zu unattraktiv, besonders für Menschen, die außerhalb Münchens wohnen oder arbeiten. Zu den wichtigsten Forderungen gehören deshalb ein höherer Takt bei den S-Bahnen und Bussen sowie ein verbessertes Ticketsystem. Auch der Einsatz von Expressbahnen zählt zu den Vorschlägen. Besonders wichtig ist den Bürgern der Ausbau der Radwege und Fahrrad-Schnellwege, auch Bikesharing soll mehr gefördert werden, heißt es in dem Gutachten.
Wohnen und Gewerbe
Als größte Probleme sehen die ausgewählten Bürger die hohen Mieten und Grundstückspreise, außerdem die Versiegelung von Flächen. Sie empfehlen deshalb vor allem eine Nachverdichtung der Städte und Gemeinden und den Mut, "innovativ in die Höhe zu bauen". Auf den Dächern könnten Dachgärten entstehen, die Hochhäuser könnten auch durch Brücken vernetzt werden. Künftige Wohngebiete sollten so entwickelt werden, dass dort Geschäfte für den täglichen Bedarf und Ärzte zu finden sind. Vor allem in der Region ist den Befragten wichtig, eine große Branchenvielfalt vor Ort zu haben, um nicht immer nach München fahren zu müssen. Die Ansiedlung von Gewerbe soll aber künftig möglichst an die Auflage gekoppelt sein, dass gleichzeitig Wohnungen entstehen.
Grün- und Freiflächen
Wichtig war den Teilnehmern, dass die verbliebenen Grünflächen in München und der Region erhalten bleiben und nicht bebaut werden. Sie fordern deshalb eine größere Rolle für den Naturschutz in der Regionalentwicklung. Auch die Schaffung und den Erhalt von Wasserschutzgebieten halten sie für die Zukunft wichtig, um die Trinkwasserversorgung zu garantieren.